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tere Vernunft — „was wirklich ist, das ist vernünftig“, sagt be-

kanntlich Hegel —, es ist ihr ein Tropfen des bitteren Wermuts der

Widervernünftigkeit beigemischt

1

.

Vom ganzheitlichen Standpunkt aus erweist sich die kategoriale

Trennung von Wesenheit und Dasein als unhaltbar. Sie ist eine Ver-

irrung des rein begrifflichen Denkens.

Bei Aristoteles hängt unseres Erachtens ihre Begründung an der

nicht richtigen, schließlich zum Nominalismus führenden Lehre,

daß die Einzelsubstanz allein das eigentlich Wirkliche sei (weil in

ihr der Stoff die Form zum bestimmten, individuellen Dasein ak-

tuiere). Die Leugnung der Wirklichkeit des Allgemeinen, der Gat-

tungswesenheit, die darin liegt, muß geradezu als ein banaler, weil

sensualistischer Zug des großen Aristoteles bezeichnet werden.

Bei Schelling dagegen handelt es sich um die Tiefenschicht, wo die

Freiheit beginnt. Jene Transzendenz, Idee oder sogar das Göttliche,

das sich durch Freiheit — zum Sein bestimmt, bestimmt sich damit

unseres Erachtens doch offenbar zur bestimmten Wesenheit. Ein

Sein, auch im Transzendenten, zu dem erst die Wesenheit hinzu-

käme, ist unseres Erachtens ein Unbegriff. Eine Wesenheit, zu der

erst das Sein hinzukäme, kann nur der Reflexion angehören, also

einem ganz abgeleiteten Gebiet, in der schöpferischen Ebene gibt es

das nicht. Sein und Bestimmtheit, das heißt Wesenheit, des Seins

fallen zu- / sammen. Wo Sein ist, ist Wesenheit, wo Wesenheit,

Sein. Sein heißt: sich zum Sein determinieren, bestimmen, v e r -

w e s e n t l i c h e n . Leeres, bestimmungsloses Sein ist ein Unbe-

griff, der erst durch die unselige Atomvorstellung in die Welt treten

konnte.

In Schellings Spätphilosophie, einer sonst großartigen Spekula-

tion, sehe ich den geheimen Fehler darin, daß sie von einem „un-

vordenklichen Sein“ in Gott ausgeht und diesem Sein die „Potenz“

des „Sein-Könnens“, also der Freiheit, logisch erst nachfolgen läßt.

Das Gegenteil aber ist richtig: Wo Freiheit ist, muß sie vor allem

andern den Vorrang haben, auch vor allem erdenklichen Sein. Das

„unvordenkliche Sein“, so müssen wir folgern, wäre gerade die Frei-

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Es ist übrigens ein Widerspruch, wenn Hegel einerseits die Identität von

Vernunft und Sein, das heißt Wesen und Sein, annimmt, andererseits in der

„Logik“ Sein und Wesen als eigene Kategorien voneinander trennt.

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