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Ist dieses abgetan, so fragen wir, ob sich die Quellen des Begriffes
„Sein“ wenigstens psychologisch verfolgen lassen. Es zeigt sich, daß
dies der Fall sei. Diese Quellen liegen in aller / u n m i t t e l b a r e n
Erlebtheit oder Erfahrung, die wir machen, demnach:
(1)
in der sinnlichen Anschauung und
(2)
in der geistigen Anschauung oder Eingebung.
Ich behaupte, daß es keine anderen Möglichkeiten gibt, als „Sein“
auf diese beiden Grunderlebnisse zurückzuführen. Bei „Sein“ müs-
sen wir entweder an ein sinnlich bestimmtes Ding denken, zum
Beispiel einen Stein; oder an ein geistiges Erlebnis, eine Ein-
gebung, zum Beispiel „schön“, „wahr“ (von geistigem und stoffli-
chem Sein), einen mehr oder weniger ekstatischen Zustand. I n
der E i n g e b u n g
n e h m e n
w i r
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t r a n s z e n -
d e n t e n S e i n u n m i t t e l b a r t e i l ! — sie beruht auf
Rückverbundenheit, ist Wiedereingehen des Ausgegliederten ins
Selbfremdsein.
Wir behaupten daher: Was dem Begriff „Sein“ zuletzt zugrunde
liegt, ist keine verarbeitende Tätigkeit des Geistes, weder das ver-
arbeitende syllogistische Denken (Schlußfolgerungen, Reflexion);
noch die verarbeitende künstlerische Gestaltung, die ausformende
Tätigkeit des Künstlers. Am Grunde beider liegt die Eingebung,
welche die verarbeitende Gedankentätigkeit trägt, welcher das re-
flektierende Denken folgt. Wer die Eingebung grundsätzlich an-
ficht, der denke an beliebige u n m i t t e l b a r e innere Erfahrun-
gen, wie zum Beispiel das Heldenhafte eines Menschen, das Packende
eines Gedichtes, eines Tonstückes, die uns wunderbar berühren und
uns etwas sagen, was uns durch reflektierendes Denken niemals klar
geworden wäre, Dinge, die man niemandem erklären kann, die man
erlebt haben muß. — Die verarbeitende Tätigkeit, welcher Art
immer, setzt also schon ein Seiendes, eine Wirklichkeit voraus, und
zwar ist es entweder das sinnliche Dasein, das uns Empfindungen
vermittelt, zum Beispiel grün, schwer; oder es ist ein geistiges
Dasein, das uns die Eingebung, ein ekstatischer Zustand des Geistes,
vermittelt, zum Beispiel wahr, schön, heldisch. Die inneren Geistes-
zustände des Menschen „Faust“, wie sie am Anfang des ersten Teiles
dargestellt sind, müssen erlebt werden, geistig angeschaut, können
nicht vermittelnd erklärt werden — und eben das geschieht durch
Eingebung, durch geistiges Schauen oder, wie es Fichte / und Schel-