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und immer wieder aufs Neue geschaffen wird. Der Seinsbegriff ist
daher nur vom Schöpfungsbegriff aus zu verstehen.
Der Beweis dieser Sätze ergibt sich aus dem Begriff der Ganzheit.
Denn ganzheitliches Sein ist nur als Ausgegliedertes denkbar; alles
Ausgegliederte ist aber nur in Gezweiung und ferner: indem es
durch Umgliederung immer wieder neu ausgegliedert wird. Darum
ist, wie wir bereits in früheren Zusammenhängen fanden, das Sein
kein beharrendes, kein fixiertes, sondern es vergeht in jeder Zeit-
spanne, um sofort wieder neu geschaffen zu werden. Wir könnten
diesen Gedanken auch so ausdrücken: alles Sein ist nicht nur aus-
gegliedertes, das heißt Äußerung einer Ganzheit (in: Gezweiung),
Darstellung eines Setzenden, Schöpferischen, sondern auch rückver-
bundenes, das heißt Selbstaufhebung, Rücknahme.
Auch vom Standpunkt des Eigenlebens des Gliedes aus ergab sich
dasselbe. Die im Glied befindliche Ausgliederungskraft, so sahen
wir früher, ist eine zugewiesene, verliehene. Sie stammt von dem
jeweils höheren Ganzen und zuletzt vom Gesamtganzen. Darum
müßte diese eigene Ausgliederungskraft sofort versiegen, wenn jene
der übergeordneten Mitte versiegen würde. Es ist die ungeheure
Täuschung des Individualismus und Atomismus jeder Art, die
Selbstausgliederungskraft des Gliedes als eine beständige und in ihm
selbst beruhende zu betrachten! Der Umtrieb, durch den das Glied
immer wieder sein Eigenleben erlangt, hat sich uns vielmehr als
unaufhörliche Selbstaufhebung (Eingang) und stets erneute Wieder-
ausgliede- / rung (Ausgang) enthüllt
1
. Das Sich-Geben ist die
Vorbedingung für das Sich-Nehmen, Ausfließen die Bedingung für
Sich-Finden, Untergang die Bedingung für Aufgang.
Immer wieder zeigt sich, daß das Sein nicht ein für allemal ge-
setzt ist, sondern immer neu gesetzt und neu geschaffen werden
muß. Die Erfahrung bestätigt überall diesen Begriff des Seins. Daß
dem bei geistigen, echt ganzheitlichen Erscheinungen so ist, haben
wir oben gezeigt. Jede Umgliederung erkannten wir als einen auf
fortwährender Rücknahme und Neuausgliederung beruhenden Vor-
gang, der als Entfaltung einer Ganzheit deren fortwährend erneu-
ter Selbstsetzungsakt ist
2
.
1
Siehe oben § 19, S. 188 f., und § 26, S. 248 f.
2
Siehe oben S. 191 und 248 ff.