[350/351]
317
Daß es sich bei den seelischen Erscheinungen ebenso verhält, lehrt
die Psychologie. Sie spricht von einem ruhelosen „Bewußtseins-
strom“ und zeigt uns einen unaufhörlichen „Wechsel“ von Vorstel-
lungen, Gefühls-, Denk- und Willensakten, die alle in der „Einheit
des Bewußtseins“ ihr Zentrum finden — ihr Zentrum in dem ganz
bestimmten Sinn, daß sie in ihm immer wieder aufgehoben, aber
auch immer wieder ausgegliedert werden. Besonders deutlich zeigen
sicht „Gedächtnis“ und „Reproduktion“ im einheitlich geordneten
Denkverlauf als solche Erscheinungen ganzheitlicher Wiederausglie-
derung. Aber schon die „Einheit des Bewußtseins“ überhaupt, das
heißt das begleitende „Ich“ („Ich“ denke . ..) bei jedem psychologi-
schen Element ist nur möglich und verständlich als jene „Einheit“,
in welcher sich die Glieder r ü c k v e r b u n d e n finden und je-
weils immer wieder aufheben. Die Ausgliederung und Wiederaus-
gliederung des Aufgehobenen ist eine identische Erscheinung, daher
jenes a k t u a 1 e Wissen, welches das erste Gewußte ausgliedert,
dasselbe ist, wie jenes jeweils nur p o t e n t i e l l gesetzte, welches
wiederausgliedert oder reproduziert — (das sogenannte Gedächtnis,
welches bekanntlich überall aktiv, nirgends wahrhaft mechanisch
ist).
/
Daß die biologischen Erscheinungen gleichfalls nur nach dem
Schema des fortwährenden Vergehens und Neuentstehens gedacht
werden können, müssen selbst die strengsten Mechanisten zugeben.
Im physiologischen Lebensgang entspricht dem Aufbau oder der
Assimilation die Dissimilation, der Abbau, die Spaltung. Der Le-
bensprozeß besteht daher aus fortwährender Suspension des organi-
schen Seins und seiner fortwährenden Neuschöpfung. Die organi-
schen Verbindungen, wie Eiweiß, Kohlehydrate, Fette, zerfallen in
einfache, wie Kohlensäure, Wasser und Ammoniak, und umgekehrt;
die o r g a n i s c h e Verbindung, das O r g a n i s c h e am Sein
wird also fortwährend suspendiert. Die Atomisten sprechen hier
etwa von einer „außerordentlichen Hinfälligkeit der einzelnen
Moleküle, die sofort, nachdem sie gebaut sind, wieder zerfallen“
1
.
Aber nicht eine Hinfälligkeit von „Molekülen“ oder anderen ele-
mentaren Verbänden ist ontologisch dabei das Wesentliche; sondern
die Hinfälligkeit, die Suspension des o r g a n i s c h e n Seins, das,
1
Adolf Stöhr: Der Begriff des Lebens, Heidelberg 1909, S. 135 (= Syn-
thesis, Bd 2).