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Daß es sich bei den seelischen Erscheinungen ebenso verhält, lehrt

die Psychologie. Sie spricht von einem ruhelosen „Bewußtseins-

strom“ und zeigt uns einen unaufhörlichen „Wechsel“ von Vorstel-

lungen, Gefühls-, Denk- und Willensakten, die alle in der „Einheit

des Bewußtseins“ ihr Zentrum finden — ihr Zentrum in dem ganz

bestimmten Sinn, daß sie in ihm immer wieder aufgehoben, aber

auch immer wieder ausgegliedert werden. Besonders deutlich zeigen

sicht „Gedächtnis“ und „Reproduktion“ im einheitlich geordneten

Denkverlauf als solche Erscheinungen ganzheitlicher Wiederausglie-

derung. Aber schon die „Einheit des Bewußtseins“ überhaupt, das

heißt das begleitende „Ich“ („Ich“ denke . ..) bei jedem psychologi-

schen Element ist nur möglich und verständlich als jene „Einheit“,

in welcher sich die Glieder r ü c k v e r b u n d e n finden und je-

weils immer wieder aufheben. Die Ausgliederung und Wiederaus-

gliederung des Aufgehobenen ist eine identische Erscheinung, daher

jenes a k t u a 1 e Wissen, welches das erste Gewußte ausgliedert,

dasselbe ist, wie jenes jeweils nur p o t e n t i e l l gesetzte, welches

wiederausgliedert oder reproduziert — (das sogenannte Gedächtnis,

welches bekanntlich überall aktiv, nirgends wahrhaft mechanisch

ist).

/

Daß die biologischen Erscheinungen gleichfalls nur nach dem

Schema des fortwährenden Vergehens und Neuentstehens gedacht

werden können, müssen selbst die strengsten Mechanisten zugeben.

Im physiologischen Lebensgang entspricht dem Aufbau oder der

Assimilation die Dissimilation, der Abbau, die Spaltung. Der Le-

bensprozeß besteht daher aus fortwährender Suspension des organi-

schen Seins und seiner fortwährenden Neuschöpfung. Die organi-

schen Verbindungen, wie Eiweiß, Kohlehydrate, Fette, zerfallen in

einfache, wie Kohlensäure, Wasser und Ammoniak, und umgekehrt;

die o r g a n i s c h e Verbindung, das O r g a n i s c h e am Sein

wird also fortwährend suspendiert. Die Atomisten sprechen hier

etwa von einer „außerordentlichen Hinfälligkeit der einzelnen

Moleküle, die sofort, nachdem sie gebaut sind, wieder zerfallen“

1

.

Aber nicht eine Hinfälligkeit von „Molekülen“ oder anderen ele-

mentaren Verbänden ist ontologisch dabei das Wesentliche; sondern

die Hinfälligkeit, die Suspension des o r g a n i s c h e n Seins, das,

1

Adolf Stöhr: Der Begriff des Lebens, Heidelberg 1909, S. 135 (= Syn-

thesis, Bd 2).