[362/363]
327
C. Der B e g r i f f d e s S e i n s u n d d e r B e g r i f f
d e s S c h a f f e n s
Wenn oben gesagt wurde, daß der Schöpfer sich vom Geschöpf
getrennt finde, so darf auch dieses wieder nicht in einem materiali-
stischen Sinn genommen werden. Der Baumeister macht das Haus
und „verläßt“ es, aber was verläßt er? — die Ziegelsteine, das Holz
und Eisen, die Idee des Hauses „verläßt“ er nicht, sie wohnt in ihm
weiter, und ebenso in den Bewohnenden, die in einem gewissen
Maß die Schöpfertat des Baumeisters nachschöpfen müssen. Denn
wenn sie die Idee des Hauses verlören, dann könnten sie auch nicht
mehr darinnen wohnen. Dann blieben Steine und Mörtel, aber ein
„Haus“ wäre nicht mehr da. Daraus folgt: Das vom S c h ö p -
f e r g e t r e n n t e G e s c h ö p f m u ß z u g l e i c h i m
S c h ö p f e r v e r b l e i b e n , wenn es nicht in das Nichts hinab-
fallen soll — ein Gedanke, den wir in der Urweise der Rückverbun-
denheit längst kennenlernten und der uns erklärt, warum das Ge-
schöpf immer wieder neu geschaffen werden muß, um im Dasein
verbleiben zu können: es muß innebleiben im Schöpfer. Darum muß
der Schöpfer, zum Beispiel der Mensch, die Idee des Hauses immer
wieder denken, darf sie nicht verlieren, sonst fällt das Geschöpf in
das Nichts hinunter. Hören wir wieder einen Kronzeugen.
/
Meister Eckehart sagt: „Man darf nicht fälschlicherweise meinen, Gott habe
die Kreaturen hervorgebracht oder geschaffen außer sich in irgendeiner unend-
lichen Leere: N i c h t s e m p f ä n g t n i c h t s und kann weder Subjekt noch
Ziel noch Ende irgendeiner Tätigkeit sein, sondern angenommen, es würde es
im Nichts empfangen oder zum Nichts gewendet, so wird es nicht ein Seiendes,
sondern ein Nichts sein. Gott hat also alles erschaffen, nicht damit es außer
oder neben oder getrennt von ihm stünde . . . sondern er hat es aus dem Nichts
gerufen, nämlich aus dem Nicht-Sein, zum Sein, das es in ihm finden, empfan-
gen und haben sollte.“
1
Eine weitere Erschwerung für die Annahme des oben entwickel-
ten Begriffes des Seins als eines steten Neugeschaffenwerdens dürfte
darin liegen, daß wir gewohnt sind, uns das Sein als ein bestim-
mungsloses, unerfülltes, leeres vorzustellen. Als ob die Dinge ihr
Sein dadurch erhielten, daß sie erstens Wesenheit haben, zum Bei-
spiel als Stein oder Mensch; und zweitens erst das „Sein“ zu ihnen
1
Meister Eckehart, deutsch von Walter Lehmann, Göttingen 1919, S. 268
(= Die Klassiker der Religion, Bde 14 und 15).