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stimmt ist, überflüssig. Angesichts der unbeschreiblichen Verwir-
rung aber, die von der Marburger Schule und ihren Abkömmlingen
in den Gesellschaftswissenschaften in dieser Frage angerichtet wurde,
ist eine besondere Erörterung, die freilich Wiederholungen nicht
vermeiden kann, geboten.
Die Begründung des Begriffes der Vollkommenheit, die sich uns
oben ergab
1
, legte bereits den Grund für die Behandlung der Frage
des Verhältnisses von Sein und Sollen. Da sie durch die neukantische
Schule gegen- / wärtig so sehr in den Vordergrund gedrängt wurde,
stellen wir unserer Untersuchung einige lehrgeschichtliche Bemer-
kungen voran.
A. L e h r g e s c h i c h t l i c h e B e m e r k u n g e n
Schon bei Kant werden die theoretische und die praktische Ver-
nunft voneinander in einer solchen Weise unterschieden, daß sie wie
zwei selbständige Vermögen erscheinen. Dagegen haben sich seiner-
zeit schon Fichte, Schelling, Hegel und Baader gewendet.
Mit der Trennung des theoretischen und praktischen Vermögens
sind aber auch Sein und Sollen voneinander getrennt, denn das theo-
retische Vermögen erkennt Seiendes, das praktische erstrebt eines,
das noch nicht ist, sondern erst sein soll.
Dabei ist „Sein“ sowohl objektiv zu fassen wie subjektiv, als Wissen, und eben-
so das Sollen objektiv wie subjektiv als zu Erstrebendes; denn das Sollen schließt
nicht nur das vom Menschen Gesollte, das subjektiv zu Tuende, sondern auch
das den Dingen wesensgemäß Zukommende in sich. Es leuchtet ein, daß für die
Verfahrenlehre dieser Unterschied von ganz anderer Bedeutung ist als für die
Ontologie. Die Verfahrenlehre hat infolge der zunächst gegebenen Trennung
von Sein und Sollen die verschiedene Tat des Verstandes beim Erkennen des
Seins und beim Erkennen des Wollens, das heißt dessen, was im Verhältnis
zu einem Ziel steht, festzustellen; die Ontologie sieht aber durch diese Trennung
das Seiende und den Gegenstand des Wissens (das Seiende überhaupt und das
Seiende als Gewußtes) voneinander getrennt.
Die neukantische Schule unter Führung Cohens faßte den Gegen-
satz von Sein und Sollen als einen rein verfahrenmäßigen und
führte ihn mit einer Schärfe durch, die bisher unbekannt war. Sie
beantwortete die Frage des Verhältnisses von Sein und Sollen dahin:
daß von einer Verbindung leider im Gegenstande einer Wissen-
1
Siehe § 11, S. 107 ff. und 153.