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des Sittlichen, sei es des Logischen, des Ästhetischen), sind nun auch
als o n t o l o g i s c h e Größen gefaßt unvereinbar und müssen
ewig getrennt bleiben! Das „Sollen" oder „Gelten“ und das ur-
sächlich bestimmte, wirkliche „Sein“ oder, wie es auch genannt
wird, das „Natursein“, bleiben zwei verschiedene Welten
1
!
Im Gegenstand jener Wissenschaften, bei denen Sein und Sollen in Frage
kommen, hat diese Spaltung notwendig die schwersten Folgen, so namentlich in
der Rechtswissenschaft. Die neukantische Rechtsschule erklärte, daß nur das
Normative des Rechts anzuerkennen, das Wirkliche (das Psychologische) nicht als
soziale Wirklichkeit anzuerkennen sei und darum k e i n S t a a t n e b e n d e m
R e c h t e x i s t i e r e
2
!
Um den Gegensatz von Sein und Sollen, der für diese Auffassung
schlechthin unüberbrückbar ist, zu überwinden, verfiel man auf die
sonderbare, wie ein Fastnachtscherz anmutende Idee der soge-
nannten „Als-Ob-Betrachtung“ — die sich sehr richtig „Als-Ob-
Philosophie“, nämlich als ob sie eine Philosophie wäre, nennt —
nach welcher die normativen Gesetze nicht tatsächlich im Wirk-
lichen fundiert sind, sondern nur als „Fiktion“ angewendet werden
können! Wieso solche Fiktionen aber überhaupt möglich sind, wenn
sie keinerlei Fundierung in ihrem Gegensatz hätten, danach wird
nicht mehr gefragt!
Ganz anders liegen die Dinge, wenn sie nicht vom verfahren-
mäßigen, sondern vom ontologischen Standpunkt aus be- / trachtet
werden. Dann liegt es dem unbefangenen Bewußtsein nahe, anzu-
nehmen, daß die Vollkommenheit (wovon Wahrheit und Falschheit
des s u b j e k t i v e n Urteils zu trennen sind) in den Dingen selbst
liegt, daß Vollkommenheit zum Realen gehört. Oder, um es in mehr
moderner Weise auszudrücken: daß Wesen und Wert, Sein und Sol-
len, im Tiefsten durcheinander bestimmt sind. (Die inneren Unter-
schiede von Vollkommenheit, Güte, Sollen, Wert, Gelten können
hier übergangen werden.)
1
Vgl. Hermann Cohen: System der Philosophie, 3 Bde, Bd 2: Ethik des
reinen Willens, 3. Aufl., Berlin 1921, S. 23: Die methodische Reihenfolge sei:
„Sein und Sollen“, nicht „Sollen und Sein“ (das hieße in seinen ontologischen
Folgen, die Cohen allerdings nicht mit diesen Worten zog: das Sein ist früher
als das Sollen!). — S. 27 f.: „Das Sollen ist die Gesetzmäßigkeit, normative Be-
stimmtheit des Wollens, ein anderes hat es nicht, das heißt es hat k e i n Sein.“ —
S. 995: „Und welches Sein bedeutet dieses Sollen außer dem Sein der Aufgabe?“
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Näheres darüber siehe in meinem Buch: Gesellschaftslehre, 2. Aufl., Leipzig
1923, S. 433 ff., 557 und öfter [3. Aufl., Leipzig 1930, S. 432, 572 und öfter].