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Die Alten haben das gewußt, die Scholastiker haben die Frage in

der sogenannten Transzendentalienlehre vertieft behandelt

1

, unsere

ärmliche Zeit mit ihrem Kultus der t o t e n Natur und ihrem In-

dividualismus hat es vergessen. Hören wir darüber Aristoteles.

In seiner Logik heißt es: „Man definiert den Gegenstand nicht schlechthin,

sondern nach seinem guten und vollendeten Zustande ... Ein Redner ist, wer

sich auf das zum Überreden Geeignete versteht; ein Dieb, wer heimliche Wege

zu nehmen weiß. Die Begriffsbestimmungen gehen auf den guten Redner, auf

den geschickten Dieb ... Das Beste an jedem Gegenstande ist immer auch das,

was am meisten sein Wesen ausmacht.“

2

Ferner: „Was jedem Dauer gibt, ist

das, was an ihm gut ist.“

3

„Eines jeden Wert liegt zumeist in seinem Wesen“

4

,

was W i l l m a n n sehr richtig so zusammenfaßt: Im Begriffe eines Wesens liegt

also nicht bloß, wie ein Ding ist, sondern wie es sein soll

5

. — „Das Gute und

Schöne“, sagt Aristoteles, „im Bestande und in der Entstehung der Dinge können

Feuer und Erde und derartiges nicht hersteilen, was wohl auch niemandem je

eingefallen ist, zu behaupten; dem Zufall aber eine so hohe Leistung zuzu-

schreiben, wäre unwürdig.“

6

/

Dieser letzte Beweisgrund leuchtet wohl am meisten ein, und

auch demjenigen, der in der materialistischen Denkweise der moder-

nen Naturwissenschaft befangen ist. Aus ihm folgt schon, daß dem

Wesen ein Soll entspricht.

Ähnliche Lehren wie bei Aristoteles finden sich in der nachkanti-

schen deutschen Philosophie. Fichtes Grundgedanke: ein Ich, eine

reine Aktivität ist es, das sich setzt; ebenso Schellings Grundge-

danke: im Sein wie im Denken setzt sich dasselbe Weltbewußtsein

(nach dem Standpunkt seiner Natur- und Transzendentalphiloso-

phie) und Hegels Grundgedanke: Ein und derselbe Weltgeist ist es,

der sich nach den Schritten der dialektischen Methode als objektive

Natur, als subjektiver und objektiver Geist, schließlich als absolute

Idee setzt — sie alle schließen in sich, daß ein inhaltlich Bestimmtes,

also Gesolltes zum Sein wird. Hegel hat in seiner Logik auch aus-

drücklich den Satz aufgestellt: „Das Wesen erscheint.“ Die Erschei-

1

Vgl. darüber Emil Arleth: Die metaphysischen Grundlagen der aristoteli-

schen Ethik, Prag 1903, S. 16 ff. Nicolaus Kaufmann: Elemente der aristotelischen

Ontologie, 2. Aufl., Luzern 1917, S. 78.

2

Aristoteles: Topik, VI, 12 fin.: „

I

ένώτβ

ό’

όρίζοντία ού τό πράγμα, άλλα το πράγμα εϋ

εχον ή τετελεομένον κτλ

3

Aristoteles: Politik, II, 2: το εκαοτον άγαλόν εκαοτον οο'ιζει.

4

Aristoteles: Topik, VI, 12: έκαστον γάρ το βέλτιατον έν τή ούσίμ μάλιστα.

5

Otto Willmann: Philosophische Propädeutik, Bd 1: Logik, 3. und 4. Aufl.,

Freiburg i. Br. 1912, S. 33.

6

Aristoteles: Metaphysik, I, 3, 22.

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