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sich uns hier in einem neuen Zusammenhange wieder, daß nicht
eigentlich die äußere Notdurft es ist, die Menschen und Geschöpfe
zum Handeln zwingt. Das Handeln bricht aus dem Schauen aus; es
folgt aus dem Geschaffenwerden. Es ist das Wesen der Geschöpfe,
die ihnen aufgegebene Weltarbeit zu verrichten. Das Wesen des
Schöpfers soll im Tun des Geschöpfes enthüllt, das Geschöpf soll nach
Art des Schöpfers werden. So will es das Urgesetz des Schaffens,
ohne das die Welt nicht bestehen könnte.
Andere Formen dieses Vorranges des Geschaffenwerdens, die wir
ohne weitere Erläuterung hierhersetzen können, sind: Charakter
(der Habitus der vorgegebenen Einfälle, Triebe) ist vor Handeln;
Inneres ist vor Äußerung; Wesen ist vor Tun, Ding vor „Eigen-
schaft“. Aus dem Schatz seines Wesens schafft jedes Ding. Kein Wir-
ken ist ein mechanischer Ablauf, sondern Schaffen, als in welchem
Freiheit und Notwendigkeit gemischt sind.
Den Vorrang des Geschaffenwerdens drückt auch der oben
1
kurz
entwickelte und in unserer „Kategorienlehre“ näher begründete
Satz aus: Rückverbundenheit ist vor Ausgliederung
2
.
Zuletzt sagt uns der Vorrang des Geschaffenwerdens vor dem
Schaffen, daß wir jedes Schaffen als ein Licht von oben begreifen
müssen. Jedes Wesen schafft in sich durch das Höhere in ihm, das
nicht von seiner Art ist.
Im Vergleiche zum aristotelischen Formbegriffe verhält sich das Geschaffen-
werden wie F o r m z u m S t o f f . Das Geschöpf ist Stoff des Schöpfers. Der
große Unterschied liegt aber darin, daß sich der Schöpfer (Form) dem Ge-
schöpfe (Stoff) nicht als einem toten Erleidenden / einprägt, wie es der aristo-
telische Formbegriff verlangt (nach Aristoteles ist „Materie“ das schlechthin
Erleidende
3
), sondern erst durch die weitergebende, freie Tat des Geschöpfes
zum Schöpfer, zur Form, wird.
B. E r s t e s u n d z w e i t e s S e i n
Wenn alles geschöpfliche Sein ausbrechendes Handeln ist und
nichts anderes, so ist dieses Handeln: zweites Sein auf Grund von
erstem Sein, Dasein auf Grund von Vorsein.
1
Siehe oben S. 43 f.
2
Vgl. mein Buch: Kategorienlehre, 2. Aufl., Jena 1939, S. 300 f.
3
Vgl. auch unten S. 97, 167 ff. und Fünftes Buch, Naturphilosophie.