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Kopula „ist“, wo wäre im Sein ein unterscheidendes Merkmal? Jedes Merkmal
ist ja ein Prädikat, das eben im Urteile als seiend oder nichtseiend angezeigt,
das aber eben darum nicht selbst das Sein ist. Dieser Standpunkt tritt bei Aristo-
teles, in der Scholastik und zuletzt besonders bei Schelling hervor; ebenso aber
auch bei Kant und Hegel
1
.
Aus diesem Gedankengang ergaben sich auch die Sätze: Das Sein hat keine
Arten, denn es macht alle Arten zu Seiendem; das Sein kommt zu den Wesen-
heiten erst hinzu wie der Gegensatz von verneinendem und bejahendem Existen-
tialurteil beweist
2
.
Stillschweigend geht von jenem Standpunkte auch die h e r a -
k l i t i s c h e A n s i c h t aus. Denn eben nach jenen eleatischen
Bestimmungen, wonach das Sein das schlechthin Sich-selbst-Gleiche
ist, wonach es in sich durch ein Merkmal nicht unterschieden ist,
kann es Veränderungen des Seins selbst nicht geben. Denn wo kein
Merkmal ist, kann sich auch keines verändern. Darum erscheint
Veränderung (Werden) als ein Widerspruch. Der heraklitische
Standpunkt besteht nun eben darin: die Veränderung als Tatsache
der Erfahrung schlechthin anzuerkennen und damit allerdings auch
den Widerspruch zum Grundsatz zu erheben. Die heraklitische An-
sicht löst den Knoten nicht, den das eleatische Denken schlingt, sie
zerhaut ihn
3
.
/
II. Die innere Dreifachheit alles Seins
Die grundsätzliche Auflösung der eleatisch-heraklitischen Wider-
sprüche des Seinsbegriffes fanden wir im Begriff der schöpferischen
Ausgliederung der Ganzheit, im Begriffe des S c h a f f e n s . Grund
1
Aristoteles: Metaphysik, VII, i, 1028 a, 10 ff.; III, 3, 998 b, 22 f. — Vgl.
oben S. 17 (über die mannigfache Bedeutung des Seins bei Aristoteles). — Thomas
von Aquino: Summa contra gentiles, I, 25; Joseph Kleutgen: Die Philosophie
der Vorzeit, 2 Bde, 2. Aufl., Innsbruck 1878, Bd 2, § 580; Schelling: Weltalter,
Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 8, Stuttgart 1860, S. 213 ff.; Kant: Kritik der
reinen Vernunft, nach der 1. und 2. Originalausgabe neu herausgegeben von
Raymund Schmidt, Leipzig 1926, S. 626 und öfter; Hegel: Enzyklopädie der
philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in 2. Auflage neu herausgegeben
von Georg Lasson, Leipzig 1905, § 87 (= Philosophische Bibliothek, Bd 33).
2
Weiteres darüber siehe unten S. 100 ff. und 107 ff.
3
Daß H e g e l s Ansicht vom Sein und jene der I d e n t i t ä t s p h i l o -
s o p h i e nur äußerlich den Widerspruch zur Grundlage machen, ihn aber
durch die übersinnlich-geistige Natur des Seins gerade überwinden wollen,
haben wir oben S. 3 1 f. angedeutet. Eine nähere Ausführung ist hier nicht nötig.