[76/77]
75
wird, ist der Schaffende actu und in diesem Sinne lautere Wirklich-
keit. Dabei bewährt sich auch die oben
1
dargelegte G e g e n s e i -
t i g k e i t des Geschaffenwerdens und Schaffens, denn der „Be-
schluß“ der Eltern ist nur actu durch das Lernen der Kinder.
Hier zeigt sich bereits klar, um was es bei der Betrachtung der
eleatischen und heraklitischen Seinsbestimmungen geht. Nicht
darum, das eine oder das andere, die Ruhe oder die Bewegung zu
verneinen, sondern das eine und das andere als Bestandteile einer
höheren Einheit zu begreifen
2
.
R ü c k b l i c k a u f d i e n i c h t - m a t e r i a l i s t i s c h e N a t u r
u n s e r e s S e i n s b e g r i f f e s
Die Wichtigkeit der Sache und die Ungewöhnlichkeit / der hier geforderten
Denkweise gebieten es, zum Schlusse nochmals auf das durchaus U n m a t e r i a -
l i s t i s c h e u n d U n m e c h a n i s t i s c h e in unserem Begriffe des Seins
zurückzukommen. Indem wir das Aufnehmen der Eingebung oder des Geschaf-
fenwerdens und das eigene Schaffen als die beiden inneren Bewegungen des
Seins erkannten, haben wir jede tote, jede materialistische, jede mechanistische
Vorstellung vom Sein ausgeschaltet. Die ungreifliche, die durchaus schöpferische
Natur des Seins entspringt aus dem Nichts (der höheren Ganzheit) und vergeht
in das Nichts (durch Rücknahme in die höhere Ganzheit) — woran weder die
Waage des Chemikers noch die Energierechnung des Physikers auch nur ein
Stäubchen zu ändern vermag. Darum haben wir oben das Einbildende, Be-
deutungsvolle, Empfindliche hervorgehoben, das bei allem „Setzen“, „Ausglie-
dern“ ebenso wie beim Erleiden der höheren schaffenden Einwirkung notwendig
gegeben ist. Da Sein Schaffen ist, ist nichts an ihm mechanisch. Wenn wir in
der Welt Vorgänge je mechanisch errechnen und beurteilen können, so liegt das
nicht an der mechanischen Natur des Seins, sondern an der Beständigkeit der
Wiedererzeugung der Welt durch alle schaffenden Stufen hindurch, zuletzt durch
Gott, und an der Beständigkeit der Aktion der Wesen aus ihrer eigenen Vita
propria heraus.
Wer das Wesen des Schaffens ganz begriffe, der begriffe Gott und die Welt,
der verstünde die Natur und den Geist. Und wer dem entgegen das Sein ohne
Schaffen begreifen will und die einbildende Natur des Schaffens und die emp-
findliche des Geschaffenen nicht festhält, wird die Würde der Welt und das
Wunder des Daseins nie ermessen.
/
1
Siehe oben S. 55 f.
2
Vgl. darüber Weiteres unten S. 76 ff. und in der Lehre von der Zeit, Fünf-
tes Buch: Naturphilosophie, S. 333 ff.