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Gezweiung vermittelt wird, ist aber mehr als ein bloßes „soziales
Moment“, es ist wesensbegründend, ist Wesensbestandteil des sub-
jektiven Geistes! „Soziale Gefühle“ (Mitleid, Mitfreude, Vater-
landsliebe, Sittlichkeit) sind jetzt nicht mehr inhaltliche Einzel-
heiten des subjektiven Bewußtseins, sondern in seiner Verfassung
begründet. Gezweiung wird damit zur Grundlage des „verstehenden
Bewußtseins“ oder des „hingebenden Bewußtseins“, wie wir es nen-
nen wollen
1
.
Unter Überspringung der Zwischenstufen findet sich das Subjekt
zuletzt auf die ausgliedernde Urmitte hingewiesen, auf Gott. Diese
letzte Rückverbundenheit nennen wir A b g e s c h i e d e n h e i t .
In ihr oder in allem, was ihr ähnlich ist, liegt der tiefste Grund
des geistigen „Schauens“. Sie begründet das letzte, tiefste Bewußt-
seinselement, das Übersinnlichkeitsbewußtsein oder den Glauben.
B. Ü b e r w i n d u n g d e s R a t i o n a l i s m u s
Sowohl mit dem metaphysischen Bestandteile wie mit dem Ge-
meinschaftsbestandteile des Bewußtseins ist jener Rationalismus
überwunden, der als Grundtat des Bewußtseins nur die Unter-
scheidung des Setzenden von der Setzung kennt. Denn indem sich
das Setzende von dem Gesetzten unterscheidet, stellt es sich das
Gesetzte als G e g e n s t a n d gegenüber; und dieser Grundakt ist
Denken oder Wissen. Durch das Nichtbeachten anderer Grund-
bestandteile (Glaube, Liebe) herrschte daher im Bewußtseinsbegriffe
des deutschen Idealismus gegen den Willen seiner Urheber noch
der Rationalismus. Glaube, Gemeinschaft gehören aber in Wahrheit
nicht dem Wissen an, sie sind / irrationale Gründe des Geistes. Ge-
meinschaft und Glaube sind nicht etwa „nachträgliche“ Errungen-
schaften. Wenn der Geist auf die begriffliche Erkenntnis Gottes, auf
die begriffliche Erkenntnis der Gemeinschaft warten müßte, wäre
er vorher längst zugrunde gegangen. Glaube und Liebe sind nicht
bloß „inhaltlich“ bestimmte Ausprägungen der Erfahrungen des
Bewußtseins, sondern beruhen auf u r s p r ü n g l i c h e n Elemen-
ten, sie sind wesensbegründend. Nachträgliche Ausprägungen der
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Siehe darüber unten S. 203 f. und 236 ff.