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Es ist also keineswegs so, wie die Empiristen es darstellen, als ob zuerst durch
das V o r s t e l l e n die sinnliche Empfindung „aufbereitet“ würde (wie die
Statistiker und Hüttenleute sagen), und sodann durch das D e n k e n die Vor-
stellungen weiter ins Abstrakte und Allgemeine „umgebildet“ würden. Vielmehr
wird das Allgemeine durch Eingebung dem Geiste inne, diese Eingebung aber
bedient sich des Schatzes der Vorstellungen als ihrer Werkzeuge, um sich dar-
zustellen. — Der empiristische Satz: nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu,
g i l t d a h e r n u r f ü r d e n E m p f i n d u n g s - u n d E r
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e b n i s s c h a t z
als einem werkzeuglichen. Dem Blindgeborenen kann kein Gesicht der Maria ge-
geben werden, da die Mittel dafür fehlen. Aber wenn die Mittel da sind, so ist
die Eingebung / mehr als die Summe der Mittel. Der eingegebene Gedanke hat
das Allgemeine zum Gegenstande — das sinnlich nie Empfundene! Die Eingebung
eignet sich den sinnlich empfundenen und erlebten Inhalt zu. Es k a n n d a r u m
z w a r a l l e s , w a s i n d e n S i n n e n w a r , a u c h i m D e n k e n s e i n ,
a b e r n i c h t s , w a s i m r e i n e n D e n k e n i s t , i s t i m I n h a l t e
d e r S i n n e . Dasselbe sagte schon Leibnizens Antwort auf den empiristischen
Satz: „nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu“, welche lautet: „nisi
intellectus ipse“, außer dem Verstande selbst; dasselbe sagt auch im Grunde der
Begriff des Apriori bei Kant.
Eng verwandt mit dem behandelten Einwande ist ein anderer, den man in
der üblichen Benennungsweise jenen der „ g e n e t i s c h e n K r i t i k “ nennen
könnte. Die herkömmliche assoziativ-empiristische Auffassung versucht nämlich,
aus dem Entstehen und der Geschichte der Vorstellungen und Begriffe sowie
aus den Eindrücken der Umwelt den Einfall zu erklären. Damit kann man aber
den Kern der Sache niemals treffen. Denn wenn auch noch so viele Eindrücke,
Ziele, Wünsche, Belange des Schauenden aufgedeckt werden, die bei der Ein-
gebung mit im Spiele wären, so kann es sich doch nie und nimmer dabei um
etwas anderes handeln denn um die unentbehrlichen Grundlagen, Voraussetzun-
gen, Werkzeuge, deren sich die Eingebung bedient, die aber alle zusammen noch
keine Eingebung sind. Gewiß werden Form und Inhalt der Eingebung davon nicht
unbeeinflußt bleiben (wir wiederholen: der Blindgeborene kann keinen Einfall
von Gestalt und Farbe haben); aber das eigentliche Wesen der Eingebung ist
damit noch nicht aufs leiseste berührt: das Neue, das Ursprüngliche, das Schöp-
ferische.
Die Ableitung aller Einfälle aus Trieben ist dann in der sogenannten „Psycho-
analyse“ auf die Spitze getrieben, die zuletzt alles aus dem Geschlechtstriebe er-
klären will. Gewiß, diese Lehre geht mehr auf Verblüffung als auf Wahrheit
aus, sie ist sozusagen Kino in der Wissenschaft. Aber der sensualistische Grund-
gedanke kehrt in ihr verhüllt (physiologisch verhüllt) wieder. All diesen und
ähnlichen Lehren ist immer wieder entgegenzuhalten, daß den Trieben gegen-
über, wie sehr sie auch Werkzeuge und Darstellungsgrundlage der Eingebungen
sein mögen, die Eingebung selbst stets etwas Neues, aus ihnen nicht Ableitbares ist.
Dem Wesen der Sache nach, dies ist entscheidend, steht am Anfange grund-
sätzlich nicht die einfachste, letzte, äußerste, in gewissem Sinne eingeschrumpfte
Form des Geistes, das sinnliche Empfinden und Leben, sondern die höchste Form,
die Eingebung. G e n e t i s c h , allerdings, in der zeitlichen Entwicklung, stehen
die vegetative Lebensempfindung und die Sinnes- / empfindungen voran; da im
frühesten Kindesalter der Gedanke, obzwar er nicht fehlt, bloß in keimhafter
Form dem Empfinden und Vorstellen vorzustehen vermag (zum Beispiel in Form
der Aufmerksamkeit, die ja mehr ist als der Sinneseindruck, die daher assozia-
tionspsychologisch schon gar nicht mehr verstanden werden kann). Je mehr aber