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wir doch das Höhere in jenem, das wir im eigenen Schaffen weiter-
geben. Das „Höhere“ — d e n n e s i s t n i c h t e i n s c h w a r -
z e s , n a t u r h a f t e s , m e c h a n i s c h w i r k s a m e s „ U n -
b e w u ß t e s “ , a u s d e m w i r z u m B e w u ß t s e i n o h n e
u n s e r e n W i l l e n a u f w a c h e n ; e s i s t e i n Ü b e r -
b e w u ß t e s , e s i s t d a s s c h a f f e n d e V o r s e i n u n s e r e s
G e i s t e s , a n d e m w i r s e l b s t d u r c h „ A n n a h m e “ (ac-
ceptatio) m i t w i r k t e n . „Unbewußt“, so drückt es eine naturali-
stisch und mechanisch denkende Zeit aus. Aber das Hervorbrin-
gende, das Geniale kann nicht eigentlich „unbewußt“ genannt wer-
den. Denn was jener „Einfall“, jene „Stimmung“, jene „Anwand-
lung“, jenes „Über-uns-Kommen“ ist, das ist der Herd unseres Ge-
schaffenwerdens, die Quelle, aus der unser Geist strömt, ein Höhe-
res, das mit Macht, aber nicht mechanisch wirkt. Es wirkt nicht in
abzumessenden Maßen, sondern gibt sich ganz innerlich, unmittel-
bar und gewaltig. Aber dennoch bleibt uns die „Annahme“ frei, und
noch mehr. Darüber müssen wir uns nun gründlicher besinnen.
IV. Geistige Lebenskunst
Hier taucht die große Frage der Freiheit auf. Ist dem Menschen
außer der in der Annahme und in der Hingebung aus Gezweiung
lebendig wirksamen Freiheit noch eine weitere Freiheit geschenkt?
Ist der Mensch, von jener Freiheit der Annahme abgesehen, seinem
Geistesgrunde, seiner Begabung, seinem Charakter schlechthin aus-
geliefert? Das ist eine entscheidende Frage nicht nur der Geistes-
lehre, der Sittenlehre, der Erziehungslehre, es ist die entscheidende
Frage aller Lebenskunst.
/
Offensichtlich ist es, daß der Mensch seinen Geistesgrund nicht
von ungefähr ändern könne. Der Unmusikalische kann nicht durch
einen plötzlichen Vorsatz musikalisch, der Feige nicht durch einen
plötzlichen Wunsch mutig, der Dumme nicht durch einen plötz-
lichen Drang klug werden. Aber die Frage, ob jemand nicht „an
sich arbeiten“, ob er sich zuletzt nicht von G r u n d a u f
ä n d e r n könne, ist in folgendem Sinne dennoch zu bejahen.
Der Mensch ist dem, was in ihm geschaffen wird, nicht willenlos
preisgegeben. Er kann es in gewissem Maße auf vermittelte Weise