Table of Contents Table of Contents
Previous Page  4541 / 9133 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 4541 / 9133 Next Page
Page Background

[250/251]

229

wir doch das Höhere in jenem, das wir im eigenen Schaffen weiter-

geben. Das „Höhere“ — d e n n e s i s t n i c h t e i n s c h w a r -

z e s , n a t u r h a f t e s , m e c h a n i s c h w i r k s a m e s „ U n -

b e w u ß t e s “ , a u s d e m w i r z u m B e w u ß t s e i n o h n e

u n s e r e n W i l l e n a u f w a c h e n ; e s i s t e i n Ü b e r -

b e w u ß t e s , e s i s t d a s s c h a f f e n d e V o r s e i n u n s e r e s

G e i s t e s , a n d e m w i r s e l b s t d u r c h „ A n n a h m e “ (ac-

ceptatio) m i t w i r k t e n . „Unbewußt“, so drückt es eine naturali-

stisch und mechanisch denkende Zeit aus. Aber das Hervorbrin-

gende, das Geniale kann nicht eigentlich „unbewußt“ genannt wer-

den. Denn was jener „Einfall“, jene „Stimmung“, jene „Anwand-

lung“, jenes „Über-uns-Kommen“ ist, das ist der Herd unseres Ge-

schaffenwerdens, die Quelle, aus der unser Geist strömt, ein Höhe-

res, das mit Macht, aber nicht mechanisch wirkt. Es wirkt nicht in

abzumessenden Maßen, sondern gibt sich ganz innerlich, unmittel-

bar und gewaltig. Aber dennoch bleibt uns die „Annahme“ frei, und

noch mehr. Darüber müssen wir uns nun gründlicher besinnen.

IV. Geistige Lebenskunst

Hier taucht die große Frage der Freiheit auf. Ist dem Menschen

außer der in der Annahme und in der Hingebung aus Gezweiung

lebendig wirksamen Freiheit noch eine weitere Freiheit geschenkt?

Ist der Mensch, von jener Freiheit der Annahme abgesehen, seinem

Geistesgrunde, seiner Begabung, seinem Charakter schlechthin aus-

geliefert? Das ist eine entscheidende Frage nicht nur der Geistes-

lehre, der Sittenlehre, der Erziehungslehre, es ist die entscheidende

Frage aller Lebenskunst.

/

Offensichtlich ist es, daß der Mensch seinen Geistesgrund nicht

von ungefähr ändern könne. Der Unmusikalische kann nicht durch

einen plötzlichen Vorsatz musikalisch, der Feige nicht durch einen

plötzlichen Wunsch mutig, der Dumme nicht durch einen plötz-

lichen Drang klug werden. Aber die Frage, ob jemand nicht „an

sich arbeiten“, ob er sich zuletzt nicht von G r u n d a u f

ä n d e r n könne, ist in folgendem Sinne dennoch zu bejahen.

Der Mensch ist dem, was in ihm geschaffen wird, nicht willenlos

preisgegeben. Er kann es in gewissem Maße auf vermittelte Weise