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satz für die Mystik ausgesprochen. Er gilt aber in sinngemäßer Ent-
sprechung für alle Gebiete geistigen Lebens. Er ist entscheidend und
allein grundlegend für jede geistige Lebenskunst.
N i c h t a l s F e i n d s c h a f t g e g e n d i e S i n n l i c h k e i t
a n u n d f ü r s i c h d a r f a u c h j e n e s „ L e e r s e i n “ v o n
d e n D i n g e n v e r s t a n d e n w e r d e n , sondern als un-
entbehrlicher Weg zur Empfänglichkeit. Darum und nur darum und
allein in diesem Sinne heißt er „Weg der Reinigung“, Via purgativa.
Alle Reinigung ist aber schmerzlich. So ahnen wir die Fruchtbarkeit
des Leidens.
Das Höhere wirkt in uns und gibt sich uns gerne ein, sobald es
kein Hindernis findet. Das Hindernis besteht aber darin, daß der
Geist des Menschen nicht aufnahmsfähig ist. Nicht aufnahmsfähig
ist er, solange er angefüllt ist mit anderem, mit / Grobem, mit
Widersprechendem. Und damit läßt er es auch an der Zubereitung,
an der Bereitschaft, an der Zartheit fehlen, die zur Aufnahme, je
länger, um so nötiger ist. Nur ein in seiner verborgenen Tiefe ge-
lassenes Gemüt kann Höheres in sich erfahren. Gelassenheit, Zart-
heit ist überall nötig, wo Höheres sich im Menschen auswirken
soll. Nur im zarten Mittel kann das Edle empfangen werden. Darum
ist das Genie überall naiv, kindlich aufgeschlossen und gleichsam
jugendrein. Dies ist der Sinn des Christuswortes: „Wenn ihr nicht
werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich ein-
gehen“. Alles Aufnehmende muß auf seine Weise dem Aufzuneh-
menden gleichförmig werden.
Was von der einen Seite als Gelassenheit, Lauterkeit und Zart-
heit erscheint, ist aber von der anderen Seite schlichte Bescheiden-
heit und Demut. Demut ist nicht Kleinmut noch Schwäche, son-
dern wiederum nichts als Leersein. Wie sollte jenes Fühlsame, Fein-
fügige, das zur Empfänglichkeit vonnöten ist, anders erlangt wer-
den, als indem wir selbst uns klein machen und uns nicht vermessen,
anderes zum Erleiden der Einsprechung hinzuzubringen, als die
reine Willigkeit?
Je größer das ist, was ein Mensch hervorbringt, um so weniger
vermag er sich selbst das Verdienst daran zuzuschreiben. Es bedarf
keines Beweises dafür, wie das oft angeführte Goethewort „Nur
die Lumpe sind bescheiden — Brave freuen sich der Tat“, hier so
ganz mißverstanden wird. Ein großer Mann, der nicht ganz klein