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Fichte bedeutsam sagte: der Leib ist die „Vollgebärde“ der Seele
1
.
— Die gestaltenhafte Entsprechung oder das leibliche Gebilde des
Gedankens ist das Wort. Wort ist das Stimm-, Ton-, Gebärden- und
Zeitbild des Gedankens, einfach gesagt, sein zeiträumlicher Aus-
druck. Darum wurde mit tiefem Blicke die Sprache als das erste
Erzeugnis der Kunst behandelt
2
. Wer das Wesen der Kunst verste-
hen will, darf nicht vom Gefühl, auch nicht vom Gefühle der Schön-
heit, ja selbst nicht von der Idee, die sich im Schönen darstellt, aus-
gehen. Er muß von dem „Sich-Darstellen" selbst, von dem „Sich-
Äußern“, „Sich-Gestalten“ als von einer Urtätigkeit des Geistes
ausgehen. Es besteht darin, daß alles Geistige Leibhaftigkeit, Zeit-
lichkeit, Räumlichkeit, das heißt s i n n l i c h e G e s t a l t anneh-
men muß. Der Eindruck, die Erregung muß ein Symbol, einen Aus-
druck, eine Gestaltung erhalten. Überblicken wir die wichtigsten
Gestaltungen, so wird das Gesagte klarwerden.
„Sinnliche Gestalt“ heißt zuerst R a u m g e s t a l t , wozu auch die Raum,,Ver-
hältnisse“ gehören: Ebenmaß, Symmetrie, räumliche Harmonie; es heißt weiter
G e s t a l t i n d e r Z e i t : Rhythmus, Takt, Silbenmaß; es heißt G e s t a l t
i n d e n T ö n e n : Weise, Wohllaut, Einklang, dazu im großen die innere
Gliederung und Entsprechung der Sätze in Sonate und Symphonie; es heißt
G e s t a l t i n d e n F a r b e n : sogenannte Farbenharmonie, Komplemen-
tarität der Farben; G e s t a l t i n d e n W o r t e n u n d S ä t z e n ,
das heißt in der Sprache, diese elementar betrachtet: Wort- und / Satzzusam-
menhang, Stil, deren Bestandteile wieder sind: Silbenmaß, Rhythmus, Lautzusam-
menstimmung, Reim; damit haben wir das reichste und vielfältigste Gebiet er-
reicht, die G e s t a l t i n d e r D i c h t k u n s t . Sie zeigt sich, um nur das
Wichtigste anzuführen: als Gliederung nach Verszeilen, Gesätzen, Gesängen,
Aufzügen, Auftritten, Handlungen; in innerer Rundung der Handlung, der Stim-
mung; im Verlauf, gleichsam der Linie, der Begebenheiten; in Einheit und Teilung
der Handlung, des Ortes, der Zeit, dramatische Gliederung der Handlung, zum
Beispiel Spieler und Gegenspieler, Held und Feigling im Schauspiele; in Epos
und Schauspiel zeigt sich ferner die Gestalt als: organisches Wachstum der Hand-
lung, das heißt gestaltenhafte Innengliederung der Teile, als die „Einfachheit“
der Handlung gegen das „Krause“; verschiedene „Gestalt“ der Tragödie bei
den Griechen und bei Shakespeare; richtiges Verhältnis von Lyrik, Mimik, Tanz
in der griechischen Tragödie; ebenso von Musik, Wort und Handlung in der
neueren Oper; dramatische Gestaltung von Begebenheiten: „Verwicklung“, das
heißt schroffe Gegensätze, Zwiespalt der Gestalten; dagegen die „epische“ Ge-
1
Immanuel Hermann Fichte: Psychologie, Bd 1, Leipzig 1864, S. 65 und
öfter.
2
Vgl. August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über philosophische Kunst-
lehre, mit erläuternden Bemerkungen von Karl Christian Friedrich Krause, her-
ausgegeben von August Wünsche, Leipzig 1911, §§ 11 ff. und 18 ff.