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gekehrten Zeiten vermögen aber die neueren Zeiten der Hast und

Unruhe diese Gabe im Menschen ungleich weniger zu entwickeln

1

.

Hier ist auch der Ort, nochmals auf den Begriff der schöpferischen

„Einbildungskraft“ zurückzuweisen

2

. Es gibt keine Kraft in unse-

rer Seele, die selbst etwas hervorbringen könnte. Der echte Künst-

ler bringt nicht hervor, sondern es wird in ihm hervorgebracht.

Nicht er bildet sich seine Gesichte ein, sondern die Gesichte bilden

sich ihm ein. Er hat keine Einbildungskraft, sondern nur Auf-

nahmskraft, Schauungskraft. Erst die Darstellung des Geschauten

auf seiner Ebene, in Wort, Farbe, Stein, gleichsam wie in seiner

zweiten Seele, findet auch den Künstler in gestaltender Tat.

Schließlich ist noch zu erinnern, daß die nachschaffende Tat des

Künstlers ebenso wie jene des Wissenden nur in G e z w e i u n g ,

sei sie vermittelt oder unvermittelt, möglich ist. Der Künstler hat

seinen Gegenstand, den er in Stille und Abgeschiedenheit auf sich

wirken lassen muß; aber die Gezweitheit seiner Schaffenstätigkeit ist

darum nicht minder unumgänglich als die jeder anderen geistigen

Tätigkeit.

Die bisherigen Erkenntnisse befähigen uns, auch das Verhältnis

des gestaltenden Bewußtseins zur Eingebung aufzuklären. Wir fan-

den in der Gezweiung, welche der „Annahme“ vorsteht, ein Ich :

Du-Verhältnis (Subjekt : Subjekt-Verhältnis; im Wissen ein Ich :

Gegenstand-Verhältnis (Subjekt : Objekt-Verhältnis). Wir finden

nun im Gestalten ein Verhältnis, das wir Ich : I d e e - V e r -

h ä l t n i s nennen wollen.

Das Entscheidende ist hier: daß das Eingegebene dem Ich nicht

„gegenüber“-steht, sondern ihm angehört, ihm entquillt. / „Das

Lied, das aus der Kehle dringt...“ sagt der Dichter. Am deutlich-

sten zeigt sich das Hervorbrechende, Ausbrechende der Gestaltung

beim Tanz. Die Tanzbewegungen sind unmittelbarer Ausdruck der

Lust, Freude, Raserei. Was es heißt, „Ausdruck, Gestalt annehmen“,

leuchtet hier jedem ein. Wie der Tanz, so auch die Sprache, die jeder

übt. Ausdrücken, Gestalten, Darstellen, Bilden, Versinnlichen,

1

Über das Verhältnis des Kunstschönen zum Naturschönen siehe unten

Sechstes Buch: Ideenlehre, S. 447.

2

Siehe oben S. 218 f.