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wir die entscheidende Wendung. Ein geistiger Inhalt, die Idee, wird
im sogenannten künstlerischen Urteile („die Rose ist rot“ — eigent-
lich ist es kein Urteil, sondern eine Gestaltenschau, ein Gestaltungs-
akt!) nicht als Inhalt (Gehalt an Merkmalen), sondern als dargelebt,
als verleiblicht, als ein Ausdruck, eine Gestalt betrachtet. Daher
kann nur wieder Gestalthaftes an der Gestalt erblickt werden, sie
kann nicht etwa mittels des Syllogismus und des zerlegenden Urteils
nach dem Zusammenhang der Merkmale untersucht werden.
Man muß allerdings bemerken — und das war gewiß für viele ein
Grund von Verwechslungen —, daß auch im logischen Urteile
Ganze und Unterganze auseinandergelegt werden. Das „System“
besteht aus einem Gliederbau von „Begriffen“, die „Begriffe“ sind
wieder ein Gliederbau von Merkmalen, die Gattungen bestehen aus
Arten usw. Ebenso werden in der / Kunst Ganze und Unterganze
(Teilgestalten) unterschieden (Drama—Akt—Szenen). Und das ist
ja auch der Grund dafür, daß sowohl das Wissen des Gegenstandes
wie die Erfassung als Gestalt in ein „Urteil“ (S ist P, die Rose ist
rot) gekleidet werden können. Daß G a n z h e i t e n z e r l e g t
w e r d e n , d a r i n l i e g t a l s o n i c h t d e r U n t e r s c h i e d
z w i s c h e n W i s s e n s c h a f t u n d K u n s t . Aber das
Wissen beginnt mit der Unterscheidung (des Gegenstandes), die
Kunst beginnt mit Gestalt und Ausdruck. Das W i s s e n s e t z t
d i e U n t e r s c h e i d u n g e n f o r t , d i e K u n s t s e t z t
d i e G e s t a l t u n g e n f o r t , das Wissen zerlegt den Gegen-
stand in Teilgegenstände, die Kunst zerlegt die Gestalt in Teilge-
stalten.
Die Selbstunterscheidung des Ich von dem Gesetzten bedeutet
Wissen des Gegenstandes; aber dieses Wissen wird niemals selber
Kunst, es geht seinen arteigenen Weg, den wir oben aufzeigten. D i e
K u n s t s e t z t d e n G e g e n s t a n d a l s s c h o n g e w u ß -
t e n v o r a u s
1
. Aber sie selbst behandelt ihn nicht als gewußten
Gegenstand, als Selbstunterscheidung des Ich von anderem, als Be-
griff, sondern als Gestalt oder Ausdruck des Begriffes. Hiermit sind
wir bei einer neuen Frage unserer Untersuchung angelangt. „Sie be-
1
Wie wir dies in unserer Abhandlung: Vorrang und Gestaltwandel in der
Ausgliederungsordnung der Gesellschaft, in: Logos, Internationale Zeitschrift für
Philosophie der Kultur, Bd 13, Tübingen 1924, S. 191 ff., darlegten. Daselbst auch
einige Schriftennachweise.