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Die Alten unterschieden vier Temperamente, die sie ursprünglich von der ver-
schiedenen Säftemischung herleiteten. Man kann sie folgendermaßen kennzeichnen:
1.
Das cholerische oder feurige, starke und schnelle,
2.
das melancholische oder das kalte, starke und langsame,
3.
das phlegmatische oder das kalte, schwache und langsame,
4.
das sanguinische oder das warme, schwache und schnelle.
/
Es handelt sich hier hauptsächlich um eine Verbindung von Eingebung und
Schaffen, das stark oder schwach, schnell oder langsam ist, bei uns „3.“ und „4.“;
aber es kommt dabei auch die höchste metaphysische oder die mehr sittliche
(beziehungsweise sinnliche) Abwandlung in Betracht, wie sie bei uns unter „1.“
und „2.“ erscheint.
Diese Einschränkung berücksichtigt, kann man wohl sagen, daß im wesentlichen
das „melancholische“ Temperament in unserer Einteilung dem religiösen Men-
schen entspricht, das cholerische dem sittlich-innigen, das phlegmatische dem aus-
führenden, das sanguinische dem schauenden Menschen.
Bezeichnend dünkt uns, daß die n e u e r e S i t t e n l e h r e , je entschlossener
sie den Standpunkt der mechanistischen Assoziationspsychologie verläßt, um so
mehr zu Versuchen gelangt, die der alten Temperamentenlehre ähneln. Das be-
weisen die Bestrebungen von W i l h e l m D i l t h e y , S p r a n g e r u n d L u d -
w i g K l a g e s . Sie wollen nicht von „assoziativen Elementen“ her aufbauen,
sondern aus dem Ganzen des Erlebens heraus, das sie zum Teil sogar im objek-
tiven Geiste begründet sehen, die Einteilung gewinnen
1
.
Verwandte Wege schlägt auch im Anschlusse an die m e d i z i n i s c h e n
B e w e g u n g e n zur Gewinnung einer Konstitutionenlehre
2
die P s y c h i a -
t r i e ein
3
, verwandte Wege sogar die S t r a f r e c h t s l e h r e
4
.
Unsere Unterscheidung von Schauen und Schaffen entspricht fer-
ner dem Sinne nach dem, was die s c h o l a s t i s c h - a r i s t o t e -
l i s c h e E i n t e i l u n g der seelischen Erscheinungen mit Er-
k e n n t n i s u n d W i l l e anstrebte
5
. Während es sich aber bei
uns nur um die Seitengliederung handelt, nämlich um jene Teil-
inhalte, Teilganzen, die auf allen Stufen wiederkehren, soll dort
eine Grundeinteilung der seelischen Erscheinungen schlechthin / da-
mit gegeben werden. Wir haben oben nachgewiesen, wie unmöglich
1
Dilthey und Spranger sehen in jedem Erleben das Wirtschaftliche, Reli-
giöse und so fort, also die Teilinhalte des objektiven Geistes, enthalten. — Vgl.
jetzt Franz Ernst Eduard Spranger: Lebensformen, 5. Aufl., Halle 1925; ferner
Gotthilf Heinrich von Schubert: Geschichte der menschlichen Seele, Bd 2, 5. Aufl.,
Stuttgart 1877, S. 143 f.
2
Vgl. Bernhard Aschners Einleitung zu seiner Übersetzung des Paracelsus:
Paracelsus’ sämtliche Werke, Bd 1, Jena 1926.
3
Ernst Kretschmer: Körperbau und Charakter, 3. Aufl., Berlin 1922, 10. Aufl.,
Berlin 1931.
4
Adolf Lenz: Grundriß der Kriminalbiologie, Wien 1927.
5
Vgl. dazu als Beispiel für die neuscholastisch gerichtete Seelenlehre: Joseph
Geyser: Lehrbuch der allgemeinen Psychologie, 2 Bde, 3. Aufl., Münster 1920.