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sinn führen kann, also auch den höheren Geistesgrund stört und zerstört. Die
wahre Geisteslehre darf niemals in Spiritualismus ausarten. Der Mensch besteht
nicht nur aus Geist, in ihm besteht aber ein Vorrang des Geistes. Gerade der
Vorrang hat aber niemals „Alleinherrschaft“ in sich. Denn wo „Vor“rang ist,
besteht auch noch ein anderes, in seiner Weise Selbständiges.
Zu Satz 9. (Vorrang des höheren Geistesgrundes vor dem niederen) ergibt
sich nun noch folgende Erweiterung:
7.
Der Vorrang des höheren Geistesgrundes vor dem niederen besteht nur
als Ganzes gegenüber einem Ganzen. Darum kann nicht ein e i n z e l n e r Ge-
danke die gesamte innere Sinnlichkeit, ja selbst nicht einzelnes in der inneren
Sinnlichkeit von sich aus verändern; darum kann auch nicht eine e i n z e l n e
Intuition die gesamte innere Sinnlichkeit oder einzelnes in ihr von sich aus
ändern und dergleichen mehr; sondern Eingebungen, Begeisterungen können stets
nur in i h r e r G l i e d h a f t i g k e i t , das will sagen als Äußerungen des
Gesamtganzen des höheren Geistesgrundes wirksam werden, also nur als Wahr-
zeichen (Anzeiger, Exponenten) des Gesamtganzen des höheren Geistesgrundes
jene Änderungen des Charakters herbeiführen.
8.
Innerhalb der inneren Sinnlichkeit hat im Akte des Vorfindens
(der Perzeption) das Vorgefundene den Vorrang vor dem Vorfinden;
im Gesamtganzen der Gezweiung höherer Ordnung dagegen hat der
Ausgliederungsakt den Vorrang vor dem Ausgegliederten. — Im
Einzelfalle also findet der Mensch in sich die sinnliche Empfindung,
Leidenschaft usw. vor; im Ganzen ist es sein eigener Charakter,
sein eigens Tun, das sich / in solcher Weise setzt, um sich hinter-
drein als so Gesetztes vorzufinden.
9.
Für die äußere Sinnlichkeit gelten im Verhältnis zu den je-
weils höheren Geistesstufen sinngemäß dieselben Vorrangsätze wie
für die innere Sinnlichkeit. Im Verhältnis zu dem Wahrgenomme-
nen gilt dagegen für das Individuum durchgängig der Vorrang des
Wahrgenommenen (des Gegenstandes) vor dem Wahrnehmenden.
Jedoch ist dieser Vorrangsatz, der wieder seine Beschränkungen
findet, erst in der Erkenntnislehre durchzuführen und zu begrün-
den
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.
10. Wissen, innere Sinnlichkeit, äußere Sinnlichkeit ist vor kon-
kretem Wollen und Handeln. Dieser Vorrang ist aber erst durch
die inneren Vorrangverhältnisse, wie sie zwischen Sinnlichkeit
höherer Ordnung, innerer Sinnlichkeit und äußerer Sinnlichkeit be-
stehen, bestimmt: Die Durchführung dieser Bestimmung fällt mehr
in die Sozialphilosophie als in die Geisteslehre.
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Siehe mein Buch: Gesellschaftsphilosophie, München und Berlin 1928.