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men; einen Vorzug aber, der / von besonderer Bedeutung ist,
erblickte ich darin, daß sie j e d e r b e l i e b i g e n p h i l o -
s o p h i s c h e n N a t u r e r k l ä r u n g f r e i e s F e l d l ä ß t .
Diese Physik geht schlechthin von den Erscheinungen in dem gege-
benen Raumkontinuum aus und bestimmt sie mathematisch. Sie
läßt daher zwar die Möglichkeit mechanischer Naturbetrachtung
offen, zwingt aber niemanden, weder die mechanische noch eine
andere Naturphilosophie anzunehmen. Wenn sie selbst noch —
nämlich in der Gestalt wie Jaumann und Lohr sie vertreten —, wenn
sie selbst noch auf dem Boden der L a p l a c e s c h e n W e l t -
f o r m e l steht und annimmt, daß der Naturverlauf ausschließ-
lich durch mathematische Gesetze dargestellt werden könne und
ferner auch keinen S u b s t a n z b e g r i f f für die Naturdinge
besitzt, so weisen wir das nachdrücklich zurück, sind aber über-
zeugt, daß diese Mängel nicht dem kontinuitätstheoretischen Ver-
fahren wesensnotwendig anhaften
1
. Wenn die Mechanisten den
Mut haben, können sie auf kontinuitätstheoretischem Grunde eine
mechanische Naturerklärung versuchen (rein philosophisch aber
wird dieses Unternehmen ja nie glücken); wenn es den Nicht-
mechanisten gelingt, können sie auf demselben Grunde die Natur
in der ihr arteigenen Lebendigkeit und Freiheit erklären. Metho-
disch zeigt sich eine auffallende Ähnlichkeit mit der scholastisch-
aristotelischen Naturauffassung. Was dort „Formen“ sind, ist hier
die „Eigenschaftsbegabtheit“ des Raumes. Die E i g e n s c h a f -
t e n ( Q u a l i t ä t e n ) b l e i b e n e i n E r s t e s , sie werden
nicht aus Lageveränderungen toter Atome „abgeleitet“; was dort
ein „Wechsel von Formen“ ist, ist hier ein „Wechsel von Eigen-
schaften“ des Raumkontinuums. Die Deutung dieser Eigenschaften
— als „Formen“, als „Substanzen“ — bleibt / frei, liegt aber nicht
mehr auf dem Gebiete der kontinuitätstheoretischen Verfahren-
lehre. Der aristotelische Schluß auf die Natur der Materie als der
rein erleidenden Möglichkeit wird hier unterlassen und kann unter-
lassen werden, da das „eigenschaftsbegabte Raumkontinuum“ für
1
Gegen die Alleinherrschaft der mathematischen Gesetze tritt auf: Karl
Faigl: Ganzheit und Zahl, Jena 1926. Er weist die Voraussetzungen für eine
mathematische Erfassung eines Vorganges auf (S. 95 ff.) und zeigt, daß diese
erkenntnistheoretisch nicht als notwendig erwiesen werden können (S. 143 ff.,
159 ff.).