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D.
Ist nur die G e g e n w a r t w i r k l i c h ? U n m i t -
t e l b a r e u n d m i t t e l b a r e W i r k l i c h k e i t
i n d e r Z e i t
Es wurde öfters bemerkt, daß man sich die Zeit nur als Gegen-
wart vorstellen könne, oder daß nur die Gegenwart wirk- / lich
sei, da die Vergangenheit schon war und die Zukunft noch nicht
ist
1
. Begreift man die Zeit als Umgliederung einer bei sich selbst
bleibenden, im Wechsel beharrenden Ganzheit, so ist hierfür der
Grund wohl einzusehen. Die Zeit kann nur als Gegenwart vorge-
stellt werden, weil man nur das Beharrende, als das stets Gegenwär-
tige, h a t . Was schon einmal ausgegliedert wurde, hat man nicht
anders, denn in seiner Gliedhaftigkeit innerhalb des Beharrenden
— und das heißt schon „gegenwärtig". Man muß aber verstehen,
daß in dieser Gegenwärtigkeit (eines Dasselbigen, Beharrenden) das
Zeitlose durchschimmert. Diese sogenannte Gegenwärtigkeit ist also
in diesem Punkte (daß in ihr die Einheit, das Beharrende in der
Umgliederung sich zeigt und sichtbar wird) gerade das Unzeitliche
in der Zeit: Alle Zeitabschnitte sind nur an der Einheit (nämlich an
dem Unzeitlichen) der Zeit gemessen Glieder dieser Einheit, das
heißt Glieder eines einheitlichen Verlaufes, einer Umgliederung.
D a r u m i s t u m g e k e h r t i n j e d e m Z e i t g l i e d e
d i e g a n z e Z e i t m i t e n t h a l t e n . Ähnlich wie im Her-
zen der ganze Organismus mit-dabei, mitenthalten ist, zum Beispiel
indem das Herz nur durch Bezugnahme auf die Lunge, auf das
Blut, auf das Nervensystem usw. gedacht werden kann (das heißt
es ja: als Glied, in Gliedhaftigkeit!); ähnlich kann auch ein Zeit-
glied nur durch Mit-Enthaltenheit des gesamten Zeitverlaufes ver-
standen werden, für die Schüler zum Beispiel in die zweite Klasse
zu gehen nur dadurch, daß man auch in die erste gegangen ist und
in die dritte gehen wird. Immer wieder müssen wir auf das gegen-
seitige Ineinander-enthalten-Sein der Zeitstufen zurückkommen. Es
ist insofern nicht richtig, daß nur die Gegenwart wirklich sei, weil
die Vergangenheit nicht mehr, die Zukunft noch nicht wirklich sei;
1
Siehe
Franz Brentano:
Psychologie vom empirischen Standpunkt,
herausgegeben von Oskar Kraus, Bd 1, Leipzig 1924, S. 220 (= Philosophische
Bibliothek, Bd 192).