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Sprache sagt: „an und für sich“, „an sich selbst“, das heißt nicht von
einem andern abgeleitet und begründet wie die sinnlichen Einzel-
dinge. Die Ideen sind einfach und unwandelbar, sich selbst gleich,
ewig. Zugleich sind sie sich selbst bewegend,
αύτό έαυτό κινούν
1
.
Dem vollkommen Seienden
(παντελώς όντι),
sagt Platon, wohnt
„Bewegung, Leben, Seele und Geist inne“
2
. — Die Ideen sind aber
nicht das Letzte. Höher steht Gott, der jenseits der Ideen, der ihr
Schöpfer ist
3
.
In welchem Verhältnisse stehen die Ideen zu den Dingen? Sie
sind dasjenige, was den Dingen Sein verleiht, denn die Dinge haben
ihr Sein nur durch „Teilnahme“,
μέθεξις,
an ihnen. Diese „Teil-
nahme“ ist, wie sich in späterem Zusammenhange zeigen wird
4
,
eine entscheidende Frage in der ganzen Ideenlehre. „Wenn es“, sagt
Platon, „außer dem Schönen an sich noch irgend etwas anderes Schö-
nes gibt, so ist dieses nur deshalb schön, weil es an dem Schönen an
sich teilhat.“
5
Die Ideen sind Wesen und Substanz,
ούσία,
sinn-
liches Dasein dagegen ist nur Werden,
γένεσις
6
; sie sind das wahr-
haft / Seiende,
τό όντως όν,
die sinnlichen Dinge, das Werdende
und Vergehende,
τό γιγνόμενον και άπολλύμενον
und damit das
gleichsam Nicht-Seiende, das
μή όν
. Indem die Dinge nur durch Teil-
nahme an ihnen bestehen, sind die Ideen die M u s t e r u n d V o r -
1
Vgl. Platon: Phaidros oder Vom Schönen, in der Übersetzung von Fried-
rich Schleiermacher neu herausgegeben von Curt Woyte, Leipzig 1915, 245 c
(= Reclams Universalbibliothek, Bd 5789).
2
Vgl. Platon: Sophistes: 248 ff, ein Satz, der sich wohl zugleich gegen die
Eleaten wendet.
3
Platon: Staat, 596 b—597 b. — Ferner heißt es im Staat, 509 b, in bezug auf
das Gute durch die Ideen: Die erkennbaren Dinge haben von dem Guten „Sein
und Wesen, ohne daß das Gute das Sein ist, vielmehr ragt es noch über das
Sein hinaus an Erhabenheit und Kraft“. — Platons Staatsschriften, griechisch und
deutsch, herausgegeben von Wilhelm Andreae, Teil 2: Staat, Jena 1925, S. 527
(= Die Herdflamme, Bd 6).
4
Siehe unten S. 414 ff. und 458 f.
5
Platon: Phaidon oder Von der Unsterblichkeit der Seele, in der Über-
setzung von Friedrich Schleiermacher neu herausgegeben von Curt Woyte, Leip-
zig 1925, 100 c (= Reclams Universalbibliothek, Bd 918—919 a); vgl. auch Staat,
476 d und öfter.
6
Platon: Staat, 508 d und 526 e; Timaios, 29 c; Sophisten, 246 c.
7
Platon: Sophistes, 240 c; Staat, 477 f.
Zu beachten ist, daß „
μή όν
" nicht ein Nichts-Sein, sondern nur Nichtsein im
beziehungsweisen Sinne heißt, nämlich nicht aktuell da sein, was ein latentes
Sein (Vorsein) voraussetzt; dagegen erst das
ούκ όν
ein Nichts-Sein bedeutet.