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polytheistischen die Vorstellung von Ideen schon mit inbegriffen ist.
In diesem Sinne mußten wir oben
1
, ohne etwas von Platons Ver-
dienst abzustreichen, sagen, daß Platon die Ideen nicht entdeckt
habe. Seine gewaltige Arbeit besteht aber darin, diese übersinnliche
Wesenwelt mit den systematischen Gedanken der Philosophie ver-
bunden und von ihr aus die philosophischen Sonderfächer der
Staatslehre, Sittenlehre, Erkenntnistheorie begründet zu haben.
Dabei ist Platons großes Verdienst noch das, den Begriff der Idee
als einer übersinnlichen Seinsmacht in die Mitte des philosophischen
Urzwistes seiner Zeit gestellt zu haben, in die Mitte des Wider-
spruches zwischen der heraklitischen Lehre vom veränderlichen
Werden und der eleatischen Lehre vom wandellosen Seienden. Die-
sen Urzwist zu lösen war ebenso nach Platon des Aristoteles Auf-
gabe wie vor ihm des Sokrates
2
. Will man die sokratischen Bemü-
hungen um die allgemeingültige Begriffsbestimmung würdigen, so
muß man berücksichtigen, daß die „Frage“, wie das Eine Vieles und
das Viele Eines sein könne — eine eleatisch-heraklitische Frage, also
eine in ihrer Wurzel völlig ontologische Frage und Denkaufgabe
war, und keineswegs eine erkenntnis-theoretische, trotz der Kampf-
stellung gegen die Sophistik. Denn auch deren Relativismus folgte
aus der (empiristischen) Seinslehre, nicht aus einer Erkenntnislehre.
I.
Die Hauptpunkte und inneren Schwierigkeiten der
platonischen Ideenlehre
A. D a r s t e l l u n g d e r G r u n d g e d a n k e n
Die Ideen werden von Platon bestimmt als das seiende Sein,
όντως
όν
3
, das will sagen als das Seiende in dem / veränderlichen Sein
der Dinge, als das reine oder das wahrhaft Seiende. Denn die Ideen
sind nicht hinfällig, nicht veränderlich, sondern „selbst an sich
selbst“,
αύτά κάθ αύτά
4
, oder wie die deutsche philosophische
1
Siehe oben S. 400 f.
2
Siehe oben in der Seinslehre, S. 28 ff.
3
Vgl. z. B. Platon: Sophistes, übersetzt von Otto Apelt, Leipzig 1914, 240 b,
248
e f.,
254 d (= Philosophische Bibliothek, Bd 150
).
4
Vgl. das Höhlengleichnis, in: Platon: Staat, VII.