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Gegen die Lehre, daß die Ideen Gedanken Gottes seien, kann ge-
wiß nichts Stichhaltiges eingewendet werden, denn die gesamte
Schöpfung ist ja notwendig zuvor im Gedanken des Schöpfers. In
solcher Allgemeinheit ist diese Einsicht aber andererseits auch nicht
genügend. Was bedeutet sie für die Ideenlehre? Bedeutet sie, daß die
Ideen (Gattungen) außerhalb der Gedanken Gottes in der Schöpfung
ein eigenes geistiges Sein haben oder nicht?
Bei Augustinus finden wir diese Frage bejaht. Überall dort da-
gegen, wo die streng aristotelische Auffassung herrscht, finden wir
die gegenteilige Neigung. In diesem Falle ergibt sich nur der Ge-
danke Gottes und das Ding selbst. Denn außerhalb des Dinges kann
es nun eine Idee nicht mehr geben. In der Aristotelischen Fassung
der Ideenlehre gibt es daher wie überhaupt kaum eine eigene Ideen-
welt so auch nicht im Falle der Erkenntnis der Ideen als der Schöp-
fergedanken Gottes. Darum gibt es auch für die streng aristotelische
Scholastik — im Gegensatze zur augustinisch-platonischen — keine
eigene „Substantialität der Ideen. Es gibt für sie nur die Dinge, die
schon / Ideen in Entfaltung sind, und das Denken Gottes. — Da
tauchen aber dieselben Schwierigkeiten auf, welche uns schon oben
bei Aristoteles begegneten: Wenn jede einzelne Idee in einem einzel-
nen Dinge angenommen wird, gibt es kein Allgemeines. Freilich
kann dann die Welt des Allgemeinen auch für sich kein Sein haben.
Es ist klar, daß dieser Gedankengang für den ganzheitlichen Stand-
punkt nicht maßgebend sein kann, da er das Ineinander des Allge-
meinen und Einzelnen, das dem Ganzheitsbegriffe eigen ist, nicht
würdigt.
Außer dem eben angeführten Gedankengange von streng aristotelischer Art
fand ich noch einen anderen Gedankengang, der beweisen will, daß es nur auf der
einen Seite die Schöpfergedanken Gottes, auf der anderen die bestimmten Einzel-
dinge gebe, daß sonach das Allgemeine als solches in keiner Weise bestehe, daß
danach auch ein eigenes Reich der Ideen nicht bestehe. Ich fand ihn in einem
verschollenen, aber geistvollen Buche des Schellinganhängers J o h a n n U l r i c h
W i r t h , „Die spekulative Idee Gottes“
1
. Die Wichtigkeit der Sache mag es
rechtfertigen, Wirths Beweisführung ausführlich mitzuteilen.
Johann Ulrich Wirth wendet sich gegen den Nominalismus: „ . . . daß die
Gattungs- und Artunterschiede wirklich durch das ganze Leben der Individuen
hindurchgreifen, ist tatsächlich.“ „... jene Artunterschiede [die Ideen] sind reelle,
das ganze Sein der Individuen bestimmende Differenzen,...“ „ . . . müssen wir
[dann] nicht wieder auf eine ursprüngliche Einheit kommen [auf Gott], die
eine von der Spontaneität der Endlichen v e r s c h i e d e n e Spontaneität in sich
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Johann Ulrich Wirth: Die spekulative Idee Gottes, Stuttgart 1845.