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sein Gemüt. Die menschliche Seele ist voll von innerer, unmittel-
barer Fülle, die aufleuchtet in Erkenntnis und Liebe, sobald sie zum
Leben erweckt wird.
„Enthaltensein“, „Gezweiung“ sind Seinsbestimmungen, sind on-
tologische Begriffe oder Baugesetze des Seins. Darum, so wieder-
holen wir, ist die E r k e n n t n i s e i n e A r t d e s S e i n s , ein
Lebensprozeß, kein bloß begriffliches Unterscheiden
1
. Sie muß
demnach auch aus der Aktuierung eines bestimmten Seins entste-
hen. Weil das Verhältnis des Geistes zur Idee ein solches gliedhafter
Verbundenheit ist und daher nicht ein solches der „Gegenüber-
stellung“ eines Gegenstandes, so wird ferner in der Erkenntnis auch
nicht der Gegenstand, wie man zu sagen pflegt, „beleuchtet“. Er-
kenntnis ist nicht ein Verhältnis / von Beleuchtendem und Be-
leuchtetem, vielmehr ein inneres Aufleuchten, die Aktuierung der
Idee in uns selbst. Wiederum zeigt sich Erkenntnis nicht als bloße
Verstandestat, sondern ebenso als Erlebnis, als Bewegung des Ge-
mütes.
Diese unsere Auffassung der Erkenntnis ist durchaus nicht neu
und nicht ohne Vorgänger in der Geschichte der Philosophie. In
unserem Sinne ist es zu verstehen, wenn Aristoteles in der berühm-
ten Stelle der Bücher „Uber die Seele“ sagt, daß die Seele gewisser-
maßen die Gesamtheit aller Dinge ist
2
; und „nicht der Stein ist in
der Seele, sondern die Form des Steins“; das Denken, „die Vernunft
[ist] die Form aller Formen und der Sinn die Form alles Wahr-
nehmbaren“
3
. Darum ist dem Aristoteles das Wissen gewisser-
maßen das Gewußte, das Denkende fällt mit dem Gedachten zu-
sammen.
In demselben Gedankengange wurzelt auch der uralte Satz der
griechischen Erkenntnistheorie: „Gleiches wird durch Gleiches er-
kannt“
4
. — Gleiches und Gleiches kann aber einander nicht äußer-
lich, nicht fremd gegenüberstehend gedacht werden, denn auf diese
1
Siehe oben S. 294 ff.
2
Aristoteles: Uber die Seele, III, 8, 431 b, 21.
3
Aristoteles: Uber die Seele, III, 8, 432 a ff., deutsch von Adolf Busse,
Leipzig 1911, S. 84 (= Philosophische Bibliothek, Bd 4). — Vgl. auch Platon:
7. Brief, 342 d (Ideenverwandtschaft des Geistes), Platons Staatsschriften, grie-
chisch und deutsch, herausgegeben von Wilhelm Andreae, Teil 1: Briefe, Jena
1923, S. 177 f. (= Die Herdflamme, Bd 5).
4
Die Nachweise hierfür siehe bei Carl Praechter: Die Philosophie des Alter-
tums, 12. Aufl., Berlin 1926, S. 86, 95, 266, 292, 314 und öfter.