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Weise wäre keine Erkenntnis möglich, sondern als befaßt in einer
„Form aller Formen“, wie Aristoteles sagt. Wir sagen, in der Glied-
haftigkeit aller Ideen untereinander.
Dasselbe besagt auch die demokritische Lehre von den Bildern,
Idolen
(ε
ί
δωλον
welche von den Dingen in uns eindringen sol-
len. Diese Lehre ist im Grunde nicht materialistisch zu verstehen,
wie dies heute geschieht. (Die Antike kannte die Krankheit des Ma-
terialismus nicht.) Es sind keine äußeren Teilchen, die sich abtren-
nen und ein Abbild ergeben — sofern / dies so gedacht wird, doch
nur als Vorbedingung zur Erweckung des inneren Erkenntnis-
aktes —, sondern innere Bilder — Eingebungen
1
,
είδος
heißt ja
nichts anderes als: Bild; „Idee“,
ίδέα
nichts anderes als: Ge-
sicht. Die Ideen sind die inneren Bilder, die in uns selbst aufleuch-
ten. Auf diese Weise geschieht es, daß Gleiches durch Gleiches er-
kannt wird.
Denselben Sinn hat Platons Lehre von der Wiedererinnerung
(άνάμνησής)
und von der Ideenschau, welche beide so allbekannt
sind, daß von ihnen hier nicht abermals geredet werden soll
2
. Die
Wiedererinnerung durch Lernen ist die der Seele heilsame Be-
wegung, wie Platon sagt
3
, sie ist die Wiedereingliederung in die
hiernieden verdunkelte Ideenwelt. — Das Denken
(λογιστικόν,νους),
dieser göttliche Teil der Seele
4
, ist ihm ein Selbstgespräch der
Seele
5 6
; der Gattung nach sind die Seelen einander gleich
6
. Sie stam-
men aus der „Weltseele“
7
. Und was kann diese anderes sein als der
Inbegriff der Ideen
8
?
Die Scholastik, besonders in ihrer augustinisch-platonischen Rich-
tung, vertrat gleichartige Gedanken. „Gott wird durch Gott er-
kannt in der Seele“, sagt Meister Eckehart, Gleiches durch Gleiches,
cognosco inquantum cognoscor
9
.
/
1
So verstand die Lehre Goethe, vgl. oben S. 211 f.
2
Vgl. Ideenerkenntnis als Wiedererinnerung und Ideenschau, in: Platon:
Phaidon, 74 a ff.; Gastmahl, 210 e ff.
3
Platon: Theaitetos, 153 b.
4
Platon: Timaios, 69 d f.
5
Platon: Sophistes, 263 e: „... die im Innern der Seele mit sich selbst ohne
Stimme stattfindende Unterredung.“
6
Platon: Philebos, 93 b.
7
Platon: Philebos, 30 a.
8
Platon: Timaios, 30 e.
9
Vgl. Meister Eckhart, herausgegeben von Franz Pfeiffer, Leipzig 1857, 38,