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erreichbar wird. D a r a u f g r ü n d e t s i c h D i l t h e y s G e g -
n e r s c h a f t g e g e n d i e S o z i o l o g i e ; denn ihren An-
spruch, d i r e k t d a s G a n z e der geschichtlich-gesellschaftlichen
Wirklichkeit zu erkennen, erklärt er für unerfüllbar. Eine solche
Erkenntnis ist ihm vielmehr — wie später noch näher mitgeteilt
werden wird — nur auf dem (mittelbaren) Wege einer innerlichen
Einigung und Festigung der Einzelwissenschaft durch Aufzeigung
eines bestimmten Denk- und Evidenzzusammenhanges derselben
(das ist durch ihre erkenntnistheoretische Grundlegung) und durch
ihre „ A n w e n d u n g i n e i n e r f o r t s c h r e i t e n d e n G e -
s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t “ möglich. So wird nicht das Ganze
als solches erkannt, sondern nur in seiner Zergliederung in Einzel-
zusammenhänge. Soziologie und Philosophie der Geschichte, welche
beide „den Zusammenhang der geschichtlichen Wirklichkeit durch
einen entsprechenden Zusammenhang von zu einer Einheit verbun-
denen Sätzen zu erkennen unternehmen“
1
haben sonach eine unlös-
bare Aufgabe
2
; denn den Zusammenhang der Geschichte erkennen
heißt, ihn, ein unermeßlich Zusammengesetztes, in seine Bestandteile
auflösen, und nur diese Auflösung in Einzelzusammenhänge, nicht
aber die unmittelbare Anschauung des Gesamtzusammenhanges und
seine Zurückführung auf eine Formel kann als möglich erachtet
werden. Ihre Methoden sind falsch, (weil entweder metaphysisch
oder naturwissenschaftlich oder beides zugleich). Sie erkennen nicht
die Stellung der Geschichtswissenschaft zu den Einzelwissenschaften
der Gesellschaft.
Diltheys Polemik gegen die Geschichtsphilosophie übergehen wir.
1
Wilhelm Dilthey: Einführung in die Geisteswissenschaft, Bd 1, Leipzig 1883,
S. 116.
2
Dilthey bestimmt das Problem der Soziologie noch näher, indem er die
Frage nach der Erkenntnis des Ganzen der Gesellschaft auflöst in eine Frage
nach einem dreifachen, die Einzelwissenschaften überschreitenden Zusammenhang
„zwischen Tatsache, Gesetz und Regel“. Es handelt sich nämlich bei jedem belie-
bigen Tatbestand 1. um den Zusammenhang mit der k o n k r e t e n Kausal-
reihe, in welcher eine Tatsache (als historische, konkrete) auftritt; 2. um den
Zusammenhang mit den a l l g e m e i n e n G e s e t z e n , unter denen die be-
zügliche Wirklichkeit steht; 3. um den Zusammenhang mit den W e r t u r t e i -
l e n , welche aus den Bedingungen der Betätigung unserer Kräfte erfließen. Ich
habe davon Abstand genommen, diese spezialisiertere Fragestellung zur Grund-
lage der Darstellung und Kritik zu nehmen, da sie beides unnötigerweise kom-
plizieren würde.