Table of Contents Table of Contents
Previous Page  4916 / 9133 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 4916 / 9133 Next Page
Page Background

40

[22]

fassung übertragen: Im Eilen und Jagen nach Gott entfalten die

Dinge erst ihre Eigenschaften; wenn der Stein fällt (worin er dem

Zuge aller Dinge zu Gott folgt), erlangt das, was wir heute Schwer-

kraft nennen, erst seine Wirklichkeit; im Streben nach Gott, durch

zeitliches „Werk und Gewerbe“ hindurch entfaltet der Mensch seine

geistigen Kräfte, und durch diese erst wird er fähig, die höchste

Einigung mit Gott zu erlangen.

Durch diesen naturphilosophischen Grundsatz erst sind wir be-

fähigt, das Janusgesicht der Sittenlehre Eckeharts zu verstehen.

Einerseits ist sie nämlich von dem unbedingten Streben nach Er-

reichung der mystischen Einigung beherrscht und in dieser ihrer

Eigenschaft natürlich der Überwelt zu-, der irdischen Welt abge-

wandt; andererseits haben wir Zeugnisse genug, in denen Eckehart

die Tätigkeit in der Welt als notwendig erklärt, wie denn auch sein

eigenes Leben voller angespannter Tätigkeit ist. Wie ist das zu

reimen? Den Schlüssel liefert uns der genannte naturphilosophische

Grundsatz; im Streben zu Gott, im Tun, entfalten sich erst die

Eigenschaften.

Da man, wie gesagt, diesen naturphilosophischen Grundsatz bis-

her nicht beachtete, nicht kannte, konnte man auch den scheinbaren

Zwiespalt von Tätigkeit und mystischer Versenkung nicht ver-

stehen. Aber Eckeharts Sittenlehre weist dem Menschen den Weg:

D u r c h d i e W e l t h i n d u r c h z u G o t t !

Sie geht von der tiefsten Wahrheit des ganzen Naturlebens aus,

welches alle Wesen erst durch T ä t i g k e i t sich entfalten und ver-

wirklichen läßt.

Gibt es eine tiefere Wahrheit auch für den Menschen?

Sie muß auch für ihn gelten, indessen muß es auf eine höhere,

nämlich eine geistige Stufe von Anbeginn gehoben werden.

Das von ihm geforderte Miteinander von innerem Schauen und

äußerem Handeln, von Abgeschiedenheit und Tätigkeit begründet

Eckehart demnach aus den inneren Lebenserfordernissen des Gei-

stes, was man in heutiger Namengebung „psychologisch“ nennen

würde. Er drückt seinen Gedanken, wie immer schöpferisch, kurz

in den meisterlichen Worten aus: Werk als Werk und Zeit als Zeit,

die sind verloren, aber die Frucht bleibt. Er erklärt dies ausführlich

in einer gut erhaltenen Predigt, in der er den den Hörern sichtlich

noch ungewohnten Gedanken ausführlich darlegt: