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fassung übertragen: Im Eilen und Jagen nach Gott entfalten die
Dinge erst ihre Eigenschaften; wenn der Stein fällt (worin er dem
Zuge aller Dinge zu Gott folgt), erlangt das, was wir heute Schwer-
kraft nennen, erst seine Wirklichkeit; im Streben nach Gott, durch
zeitliches „Werk und Gewerbe“ hindurch entfaltet der Mensch seine
geistigen Kräfte, und durch diese erst wird er fähig, die höchste
Einigung mit Gott zu erlangen.
Durch diesen naturphilosophischen Grundsatz erst sind wir be-
fähigt, das Janusgesicht der Sittenlehre Eckeharts zu verstehen.
Einerseits ist sie nämlich von dem unbedingten Streben nach Er-
reichung der mystischen Einigung beherrscht und in dieser ihrer
Eigenschaft natürlich der Überwelt zu-, der irdischen Welt abge-
wandt; andererseits haben wir Zeugnisse genug, in denen Eckehart
die Tätigkeit in der Welt als notwendig erklärt, wie denn auch sein
eigenes Leben voller angespannter Tätigkeit ist. Wie ist das zu
reimen? Den Schlüssel liefert uns der genannte naturphilosophische
Grundsatz; im Streben zu Gott, im Tun, entfalten sich erst die
Eigenschaften.
Da man, wie gesagt, diesen naturphilosophischen Grundsatz bis-
her nicht beachtete, nicht kannte, konnte man auch den scheinbaren
Zwiespalt von Tätigkeit und mystischer Versenkung nicht ver-
stehen. Aber Eckeharts Sittenlehre weist dem Menschen den Weg:
D u r c h d i e W e l t h i n d u r c h z u G o t t !
Sie geht von der tiefsten Wahrheit des ganzen Naturlebens aus,
welches alle Wesen erst durch T ä t i g k e i t sich entfalten und ver-
wirklichen läßt.
Gibt es eine tiefere Wahrheit auch für den Menschen?
Sie muß auch für ihn gelten, indessen muß es auf eine höhere,
nämlich eine geistige Stufe von Anbeginn gehoben werden.
Das von ihm geforderte Miteinander von innerem Schauen und
äußerem Handeln, von Abgeschiedenheit und Tätigkeit begründet
Eckehart demnach aus den inneren Lebenserfordernissen des Gei-
stes, was man in heutiger Namengebung „psychologisch“ nennen
würde. Er drückt seinen Gedanken, wie immer schöpferisch, kurz
in den meisterlichen Worten aus: Werk als Werk und Zeit als Zeit,
die sind verloren, aber die Frucht bleibt. Er erklärt dies ausführlich
in einer gut erhaltenen Predigt, in der er den den Hörern sichtlich
noch ungewohnten Gedanken ausführlich darlegt: