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III.
Die Gesellschaftsphilosophie des Empirismus
A.
Die E r k e n n t n i s l e h r e u n d S e e l e n l e h r e
d e s E m p i r i s m u s
Der idealistischen Gesellschaftsphilosophie steht die empiristische
oder naturalistische gegenüber. Der Empirismus (von
έμπειρος,
,
kundig) ist jene Ansicht, die das menschliche Wesen allein auf die
Erfahrung zurückführt. Dabei kommt aber alles auf den Begriff
der Erfahrung an. „Erfahrung“ wird vom Empirismus in dem
Sinne gefaßt, daß sich die uns darbietenden Tatsachen — z. B. „rot“
oder „Schmelzpunkt des Eises“ — je für sich selbst, wie sie kom-
men und gehen, genommen werden, das heißt als inhaltliche Be-
stimmtheiten schlechthin, nicht als Ausdruck eines Übersinnlichen,
das sich in ihnen darstellt. Dieser Begriff der Erfahrung kann nicht
anders, als zuletzt auf die Sinneseindrücke, die Sinneserfahrung,
zurückgehen, denn wenn das Übersinnliche ausgeschlossen wird,
bleibt nichts mehr zurück als das rein Sinnliche. Daher wurzelt je-
der Empirismus zuletzt im S e n s u a l i s m u s (von sensus, Sinn)
und ist damit auch Naturalismus, Positivismus (so genannt von der
„positiven“ Erfahrung).
So meinten es ja auch im Grunde schon die N o m i n a l i s t e n des Mittel-
alters, welche der Hochscholastik folgten und als Vorfahren der neueren Empi-
risten zu betrachten sind. Wir führen als die wichtigsten Empiristen an:
H o b b e s : Leviathan
1
, 1651. — L o c k e : An Essay concerning human
understanding, 1690. — H u m e : An inquiry concerning human understand-
ing
2
, 1748. — C o n d i l l a c , V o l t a i r e , H o l b a c h , H e l v e t i u s . —
L a M e t t r i e : L’homme machine
3
, 1748. — R o u s s e a u : Du contrat social
ou principes du droit politique
4
, 1762.
Spätere Empiristen sind die sogenannten P o s i t i v i s t e n , die sich durch
größere Zurückhaltung von jenen zum Teil ausdrücklich materialistisch Gesinn-
ten unterscheiden wollen:
1
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie, in Auswahl übersetzt und
herausgegeben von Max Frischeisen-Köhler (= Philosophische Bibliothek, Bd 157
und 158), Leipzig 1915 und 1918.
2
David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, deutsch
von Raoul Richter (= Philosophische Bibliothek, Bd 35), Leipzig 1907.
3
Jean de la Mettrie: Der Mensch eine Maschine, deutsch von Max Brahn
(= Philosophische Bibliothek, Bd 68), Leipzig 1909.
4
Jean Jacques Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des
Staatsrechtes (= Reclams Universalbibliothek, Bd 1769—70), Leipzig 1884.