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C o m t e : Cours de la Philosophie positive
1
, 1830—1842. — Ludwig F e u e r -
b a c h : Das Wesen des Christentums, Leipzig 1841. — John Stuart M i l l :
A System of logic ratiocinative and inductive
1 2
, 1843. - Richard A v e n a r i u s :
Kritik der reinen Erfahrung, 2. Auflage, Leipzig 1907 f. — Ernst M a c h : Analyse
der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, 1886,
6. Auflage, Jena 1911.
Sensualistisch ist denn auch die Erkenntnistheorie des Empiris-
mus und Positivismus. Sie ist bezeichnet durch den berühmten
Satz: N i h i l e s t i n i n t e l l e c t u , q u o d n o n f u e r i t
i n s e n s u , nichts ist im Verstande, was nicht in den Sinnen war
3
.
Die Meinung dieses Satzes ist: daß neben der Sinneserfahrung keine
Erkenntnisquelle im menschlichen Geiste vorhanden sei. Der
menschliche Geist ist eine T a b u l a r a s a , er verhält sich rein
erleidend, nimmt die Sinneseindrücke auf und tut nichts Eigenes
zur Erfahrung hinzu (er hat kein Apriori). Das Denken ist daher
mit den Erinnerungsbildern und deren Verbindungen, kurz, mit
Ableitungen („Derivaten“, „Sublimierungen“) der Sinneseindrücke
erfüllt. Die Allgemeinvorstellungen oder -begriffe sind in Wahr-
heit nur Einzelvorstellungen. Das Denken ist ein Ablauf wie jeder
andere Naturablauf. Die Gesetze, durch die dieser Ablauf bestimmt
ist, sind die „Assoziationsgesetze“. Der Wahrheitsbegriff, der sich
daraus ergibt, / ist daher s e n s u a l i s t i s c h , sofern der Inhalt
der Erkenntnis aus der Sinneserfahrung stammt; p o s i t i v i -
s t i s c h , sofern er nur durch positive Tatsachen gegeben ist; re-
l a t i v i s t i s c h , sofern die Erfahrungsinhalte wechseln und es
daher nur relative Wahrheit gibt; ferner s u b j e k t i v i s t i s c h
(das heißt individualistisch), sofern nur das einzelne Subjekt die
Erfahrung macht und die Erkenntnis schöpft; endlich s k e p t i s c h ,
weil an der Möglichkeit der Wahrheit gezweifelt wird. Mit einer
zurückhaltenden Geste nennen die Modernen ihren Skeptizismus
„Agnostizismus“, „Nicht-Erkenntnis“, statt Zweifel.
Der Auflösung des Erkenntnis- und Wahrheitsbegriffes entspricht
1
Auguste Comte. Soziologie, deutsch von Valentin Dorn, 3 Bde, 2. Aufl.,
Jena 1923 ff.
2
John Stuart Mill: System der deduktiven und induktiven Logik, deutsch
von Theodor Gomperz, 2. Aufl., Leipzig 1884.
3
Der Satz ist auch Aristotelisch, hat aber bei Aristoteles, wo der Begriff
des I n t e l l e c t u s a g e n s hinter der Sinneserfahrung steht und der Kan-
tischen „transzendentalen Apperzeption“, beziehungsweise dem „Apriori“ ent-
spricht, einen anderen Sinn.