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Daraus folgt: das tätige Leben ist auch dem vollkommenen Men-
schen unentbehrlich!
Eine gesellschaftsphilosophische Analysis dürfen wir bei Meister
Eckehart allerdings nicht erwarten. Aber er beschämt alle einzel-
wissenschaftliche Analysis, indem er mit alles durchdringender
Denkerkraft gleich bis auf den letzten Grund geht: er geht von Gott
aus.
„Waz ist guot? Daz sich gemeinet (vergemeinsamt). Den heizen wir einen
guoten menschen, der gemeine (vergemeinsamt) unde nütze i s t . . . G o t t i s t
d a z a l l e r g e m e i n e s t e (Gemeinsamste); dekein dinc gemeinet sich von
dem sinen (das heißt: vergemeinsamt sich aus seiner eigenen Seinsfülle), wan
alle creature von in selber niht ensint. Swaz sie gemeinem (in der Gemeinschaft
an andere hergeben), daz habent sie von eime anderen. Sie gebent sich ouch niht
selbe ... aber got gemeinet daz sine (teilt es allen mit), wan er von im selber
ist, daz er ist, und in allen den gaben, die er git, so gibet er sich selber. .
Hiermit haben wir denselben Grundgedanken, der die Natur-
philosophie ebenso wie die Sitten- und Gemeinschaftslehre des
Meisters durchzieht: M e n s c h u n d N a t u r haben nur ein
Gemeinschaftsverhältnis dadurch, daß sie beide in Gott gründen,
daß Gott dem Steine (wie Eckehart sagt) „ebenso nahe“ ist wie dem
Menschen (nur: „der Stein weiß es nicht“). So auch die M e n -
s c h e n u n t e r e i n a n d e r : Gott wohnt auf dem Grunde jeder
Seele, und sie gründen dadurch alle gemeinsam in Gott; diese
Gemeinsamkeit ist es, welche echte G e m e i n s c h a f t ( G e -
z w e i u n g ) zwischen den Menschen ermöglicht wie bedingt: Gott
gemeinet sich den Menschen, sie sind dadurch in Gott sowohl wie
untereinander verankert.
Seine Forderung, tätiges und innerlich abgeschiedenes Leben zu
vereinigen, erläutert Eckehart selbst an folgendem Beispiele:
„Des nim ein ebenbilde (Beispiel). Ein tür get in einem angel uf unde zuo.
Nu gliche ich daz uzer bret an der tür dem uzern menschen, so gliche ich den
angel dem innern menschen. So nu diu Tür auf unde zuo get, so wandelt sich
daz uzer bret hin unde her unde belibet doch der angel in einer stete unbeweglich
unde wirt dar umbe niendert verwandelt. In gelicher wise ist ez ouch hie.“
2
Schon dieser kurze Bericht zeigt uns den größten Mystiker auch
als den größten Gesellschaftslehrer
3
.
1
Meister Eckhart, ebenda, S. 269, Zeile 21 ff.
2
Meister Eckhart: Traktat über die Abgeschiedenheit, ebenda, S. 489,
Zeile 27 ff.
3
Siehe über Eckehart auch unten S. 107.