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2.

Die gesellschaftsphilosophische Bedeutung der Kantischen

Sittenlehre

Durch die Lehre vom sittlichen Apriori hat sich Kant ein gleiches

Verdienst erworben wie durch die Lehre vom Apriori des Erken-

nens. Denn er hat dadurch den E m p i r i s m u s i n d e r

S i t t e n l e h r e e n d g ü l t i g e r s c h ü t t e r t . Während aber

das Apriori der theoretischen Vernunft durch den Begriff des

„Dinges an sich“ der Subjektivität, daß heißt hier, dem Solipsis-

mus, eine Schranke setzt, fällt beim Apriori der praktischen Ver-

nunft, dem sittlichen Apriori, diese Schranke weg. Die theoretische

Vernunft ist wohl durch ein subjektives Apriori erkennend, aber

doch nicht ganz allein durch sich selbst, sondern auch durch das

„Ding an sich“; die praktische Vernunft ist aber durch sich allein

praktisch. Dadurch entsteht der verhängnisvolle Begriff der „Auto-

nomie“ der praktischen Vernunft, das ist der „moralischen Auto-

nomie“ überhaupt — als einer subjektiven.

Daran knüpft sich eine weitere Folgerung: Ist der Einzelne ganz

allein aus sich heraus sittlich, d a n n i s t d i e V i e l h e i t d e r

E i n z e l n e n

i r r a t i o n a l ; weder im Erkenntnisvorgange

noch im sittlichen Handeln ist ein anderer Mensch nötig! Im sitt-

lichen Vorgange gibt es darnach nunmehr eigentlich kein „Soziales“.

Kantens Sittenlehre ist ursprünglich I n d i v i d u a l e t h i k ; sie

kann erst nachträglich die Aufgabe haben, „Sozialethik“ zu werden.

Hierin gleicht Kantens Sittenlehre jener des Empirismus und Sub-

jektivismus der Aufklärung.

Kantens Sittenlehre fehlt das Gesellschaftlich-Überindividuelle.

Sie ist individualistisch, kann daher auch nur einen individuali-

stischen Sitten- und Gesellschaftsbegriff begründen. Denn erst

wenn die Vielheit der Menschen ein a r t e i g e n e r Bestimmungs-

grund des Sittlichen wäre, ein Bestimmungsgrund, der über den

Einzelnen steht, der für alle Einzelnen wesenhaft, vorempirisch,

apriorisch ist, erst dann ist Sozialethik möglich.

Die Folgerungen zeigen sich in der R e c h t s - u n d S t a a t s -

l e h r e . D e r S t a a t ist ihm ein Vertragsgebilde, ähnlich wie dem

individualistischen Naturrecht. Er nimmt allerdings kein geschicht-

liches, aber ein logisches Entstehen aus dem Vertrag an und erklärt

sogar die Ehe für einen Vertrag. Darum ist ihm wie den Empiri-