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w i r k l i c h w i r d , s i n d s i e n i c h t m e h r s u b j e k t i v e r
G e i s t , s o n d e r n v o m o b j e k t i v e n e r f ü l l t , objektiver
Geist. Die Gemeinsamkeit des Urteilens und Handelns der Einzel-
nen, so kann man diesen Gedanken Hegels auch erläutern, ist keine
nachträgliche und zufällige Zusammenstimmung, keine Resultante;
sondern jenes Gemeinsame oder Allgemeine ist vielmehr das Herr-
schende für die Gestaltung des Einzelnen; es erst erhebt die Indivi-
dualität ins Allgemeine. Darum spricht Hegel von der „Marotte des
Selbstdenkens“
1
, ein kühnes Wort, das gleichwohl die tiefste Wahr-
heit enthält und jeden eitlen Subjektivismus austilgt. In demselben
Sinne ist wohl die berühmte, oft angefochtene Stelle von der „List
der Vernunft“ zu verstehen. „Das ist die List der Vernunft zu nen-
nen, da sie die Leidenschaften für sich wirken läßt, wobei das, durch
was sie in Existenz setzt, einbüßt und Schaden leidet
2
.“
Den Gedanken der „List der Vernunft“ nahm Goethe auf. „ D e r M e n s c h
m u ß w i e d e r r u i n i e r t w e r d e n : Jeder außerordentliche Mensch hat
eine gewisse Sendung, die er zu vollführen berufen ist. Hat er sie vollbracht, so
ist er auf Erden in dieser Gestalt nicht weiter vonnöten, und die Vorsehung
verwendet ihn wieder zu etwas anderm. Da aber hienieden alles auf natürlichem
Wege geschieht, so stellen ihm die Dämonen ein Bein nach dem andern, bis er
zuletzt unterliegt. So ging es Napoleon und vielen andern .. .“
3
Wieder darf man sagen, daß im Begriffe des objektiven Geistes auf neue
Weise und von anderen Voraussetzungen ausgehend, die Platonisch-Aristotelische
Lehre von der „Teilnahme“ (participatio) des Einzelnen in der „Idee“ oder „Form“
wieder erzeugt wurde. Wie weit dieser Begriff selbst vollkommen standhält und
ob dabei auch der Begriff der Individualität tief genug gefaßt wurde, ist aller-
dings eine andere Frage
4
.
Die weitere Frage dieser Lehre ist nun: Wie setzt sich das Allge-
meine im einzelnen Willen durch
5
? Hegel beantwortet sie auf fol-
gende Weise:
/
1.
Das Individuum findet Triebe und Neigungen in sich vor
und entschließt sich auf dieser Grundlage. Es ist damit zwar formell
1
Hegel: Propädeutik, S. 6.
2
Hegel: Philosophie der Geschichte, herausgegeben von Friedrich Brunstäd
(= Reclams Universalbibliothek, Bd 4881—4885), Leipzig 1907, S. 70.
3
Goethe zu Eckermann am 11. März 1828, in: Johann Peter Eckermann:
Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, mit Einleitung und
Anmerkungen herausgegeben von Gustav Moldenhauer, Leipzig 1884.
4
Vgl. zur Kritik mein Buch: Der Schöpfungsgang des Geistes (= Ergän-
zungsbände zur Sammlung Herdflamme, Bd 3), Jena 1928, S. 462 ff. und S. 513 ff.
5
Hegel: Rechtsphilosophie (= Die Herdflamme, Bd 11) Jena 1927, §§ 7 ff.,
besonders § 21. — Dazu: Fichtes Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, heraus-
gegeben von Hans Riehl, Teil 1, Jena 1928, S. 189 ff.