100
[62]
Dieses Spüren des Enthaltenseins oder Rückverbundenseins, der
Glaube, ist die tiefste Wurzel alles Geistigen. D a r u m g i b t e s
k e i n e n g r u n d s ä t z l i c h e n G e g e n s a t z z w i s c h e n
G l a u b e n u n d W i s s e n . Es kann einen Gegensatz zwischen
Wissenselementen im Glauben und zwischen sonstigen Wissens-
elementen, z. B. zwischen bestimmten Glaubenssätzen und bestimm-
ter Wissenschaftsrichtung geben; aber das ist eigentlich ein Gegen-
satz im Wissen selbst. Zwischen Glaube und Wissen als solchen
jedoch kann nie ein Gegensatz entstehen, weil Glauben im Sinne
jener Urfähigkeit der Seele, das Rückverbindende zu berühren oder
zu ahnen, dem Wissen nicht widerspricht, vielmehr die Voraus-
setzung für alles geistige Leben, daher auch für das Wissen ist.
2. Die Eingebung
Wir müssen uns von der Meinung frei halten, der Mensch könne
die ursprünglichen Inhalte seines Lebens selbst schaffen. Hier
herrscht ein unglücklicher Sprachgebrauch mit dem Worte „Phanta-
sie“, der meint, ein Mensch, welcher Phantasie hat, schaffe, bilde
selbst die Inhalte seiner Phantasie, wie denn auch dieses Wort fälsch-
lich mit „Einbildungskraft“ wiedergegeben wird. — Phantasie
kommt aber von „Erscheinung“. Das griechische Wort
φάντασμα
deutet also darauf hin, daß der Geist Erscheinungen habe. Die deut-
sche Sprache nennt es: Gesicht, Einfall, Eingebung. Von oben „fällt
etwas ein“, es kommt also nicht aus mir selbst, es fällt mir zu, ist
nicht von mir gebildet. Es wird mir eingebildet, nicht ich bilde es.
Noch nie schuf in diesem Sinne ein Künstler selbst etwas. Je tie-
fer der Künstler in das Reich seiner Kunst eindringt, um so weniger
schreibt er sich selbst zu, um so mehr wird das Nachtwandlerische,
das Halbbewußte des Schaffens, des Einfalls offenbar. Wir können
unmittelbar nichts dazutun, der „Einfall“ kommt von selbst. Der
Begriff der „Begabung“ drückt dasselbe aus (musikalische, denkeri-
sche Begabung und so fort). Diese Begabung kann klein oder groß
sein, sie deutet auf das gleiche, auf die Fähigkeit: Einfälle zu haben.
Die großen Eingebungen eines Platon, Michelangelo, Shakespeare,
Mozart, Goethe, Schiller und die kleinen Eingebungen des Alltags-
menschen sind grundsätzlich dasselbe: der Geist lebt von der Ein-
gebung, in ihr wird er geschaffen. Die Eingebung ist das Ge-