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sagt man. Der Mensch findet sich in seinem Charakter vor. Die

ganze Haltung der Eingebung, die einem Menschen kommt, bezeich-

nen wir als seinen Charakter. Die Richtung seiner Begabung ist also

zunächst gegeben, ist unmittelbar, nicht frei. Die Eingebung steht

uns nicht zu, sie wird geschenkt. Nur in der Vorbereitung alles

dessen, was die Eingebung begünstigt, liegt Freiheit (alle Übungen

der Sammlung

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).

Die A n n a h m e aber ist frei. Wir können annehmen oder

nicht. Hier haben wir den ersten, den Schicksal gebenden Freiheits-

akt. Annehmen aber kann man nur als Glied einer G e z w e i -

u n g, wie oben gezeigt. Gezweiung ist aber immer durch H i n -

g a b e gekennzeichnet. Hingabe ist L i e b e . Darin also muß die

Freiheitstat getan werden. Wer sich nicht hingibt, geht nicht ein in

die Gezweiung — und w i r d darum auch nicht in ihr.

Es ist eines der wunderbarsten Geheimnisse des Lebens und des

Weltbaues, daß ein Ding nur werde, indem es sich hingibt. Was sich

nicht hingibt, wird nicht. Die Hölle muß darum eher als das Kalte,

Gezweiungslose, Nichtige vorgestellt werden denn als irdisches

Feuer.

Freiheit ist ferner in der auf die Annahme folgenden Schaffens-

tat: im W i s s e n u n d G e s t a l t e n . Der Denker muß aus seinen

Einfällen die Folgerungen ziehen, er muß den Gedanken zu einem

ganzen System ausarbeiten. Desgleichen muß der Maler das Ge-

schaute selbst malen und jeden Pinselstrich hinsetzen, der Tonsetzer

die innerlich gehörten Weisen hinstellen und durchführen. Hier

ist überall die Freiheit der eigenen Tat.

Ähnlich in der S i n n l i c h k e i t : Der Mensch kann die äußere

Empfindung, den inneren Trieb, die Leidenschaft annehmen oder

nicht, obwohl hier schon die Heftigkeit mancher Empfindungen

an Zwangläufigkeit grenzt (Beispiel: von glühenden Kohlen die

Hand zurückziehen). Aber in den Grundzügen ist das sinnliche Le-

ben wohl zu meistern. In gewissem Maße beruht auf diesem Grund-

satze schließlich jede Sittlichkeit.

Nun kommt erst das W o l l e n u n d H a n d e l n ! „Willens-

freiheit“ im abstrakten Sinne, Willensfreiheit, die alles kann, gibt

es nicht. Ein Verbrecher kann sich nicht plötzlich ändern. Es gibt

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Siehe unten S. 107.