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nur eine a r t e i g e n e Freiheit des Handelns, nämlich die, aus

den Summanden das Fazit zu ziehen: aus der Eingebung, der An-

nahme, der Hingabe in der Gezweiung, dem Schaffen / in Wissen-

schaft und Kunst, aus der Freiheit in der (Annahme und) Gestaltung

der Sinnlichkeit. Alle diese Summanden sind aber dem Handelnden

jeweils schon vorausgegeben! Der G e i s t i s t s c h o n , b e v o r

e r k o n k r e t w i l l !

Wenn ein bestimmter Mensch etwas Bestimmtes will, z. B. eben jetzt Berg-

steigen, dann hat er in der Aufgabenstellung dessen, was er will, schon sich

selbst, den ganzen Menschen, jeweils vor sich. Der Wanderer, der gar nicht wüßte,

was Musik wäre, will nicht Geige spielen. Nicht an dem muß es liegen, daß er

es absolut nicht könnte (er ist vielleicht musikalisch begabt); aber so, wie er jetzt

ist, kann er die Musik nicht wollen — er kann eine s o l c h e Summe aus den

Summanden nicht ziehen!

Jenen Begriff der Willensfreiheit, wonach jeder tun und lassen könne, was

er wolle, die W i l l k ü r , müssen wir daher grundsätzlich ablehnen. Er ist

der gefährlichste Feind der Lösung dieser Denkaufgabe. Der Verbrecher wird

nicht durch einen einzigen Akt ein Heiliger, er kann bereuen und ein anderes

Leben a n f a n g e n ; er kann sich auch z. B. nicht auf einmal entscheiden, Platon

zu lesen, er k a n n s i c h n u r e n t s c h l i e ß e n , s i c h i n Z u k u n f t

(durch den Gang seiner Studien) so zu e n t s c h e i d e n , d a ß e r s p ä t e r -

h i n P l a t o n w e r d e l e s e n k ö n n e n .

Die Freiheit ist überall dieselbe, in jedem Zeitpunkte, auf jeder inneren

Stufe des Geistes — aber eine abstrakte Freiheit, eine einfache Willkür gibt es

nicht, hat es noch nie gegeben. Diese ist die falsche, oberflächliche Erfindung zur

Widerlegung des Empirismus, der da meint, es gebe überhaupt keine Freiheit, son-

dern wie Gewichte auf einer Waage nur Lust- und Unlustgefühle. Aber dieser

primitiven Mechanik dürfen wir nicht eine ebenso primitive A-Mechanik ent-

gegensetzen.

5. Die geistige Lebenskunst

Damit kommen wir auf eine große Frage und Aufgabe, auf die

g e i s t i g e L e b e n s k u n s t . Wenn die Freiheit der Summen-

ziehung aus unserem inneren Erleben, die wir von Jugend auf im

Geiste vollziehen, eine arteigene ist, was können wir dann tun, um

unsere ganze Richtung zu ändern? Wir haben die arteigene Freiheit

der Annahme. Wenn aber die Eingebungen minderwertig, uner-

wünscht sind, wie kann man dann den Charakter ändern? Wie kann

der Nichtdenker zum Denker, der Nichtmusikalische zum Musikali-

schen werden? Gibt es eine Möglichkeit des Herbeilockens von Ein-

gebungen?

Daß unsere heutige Psychologie und Philosophie diese Frage nicht

einmal stellt, ja daß sie nicht geradezu im Mittelpunkt unseres gei-