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stigen Lebens steht, ist nicht nur ein weiterer Beweis dafür, daß mit
der Unterscheidung von „Vorstellung, Gefühl, Wille“ nichts anzu-
fangen sei — es ist auch ein Zeichen des Tiefstandes unserer auf-
klärerischen Kultur! In jeder großen Kultur lebt diese Lehre, die wir
geistige Lebenskunst nennen möchten, und wirkt als ein selbstver-
ständliches Gut der Bildung. Seit Urzeiten kennt man den Joga.
Im Mittelalter ist die Abgeschiedenheitslehre des Meister Eckehart
allgemein bekannt. In der Mystik aller Zeiten und Völker kennt
man die Unterscheidung der Via purgativa, Via illuminativa, Via
unitiva — die Lehre vom Wege zur Höherbildung des Geistes, zu-
letzt zur Heiligkeit.
Will sich der Mensch innerlich ändern, so genügt ein abstrakter
Willensakt nicht. Der Verbrecher muß den Weg der Reinigung
durchmachen, er muß alles das in langsamem Stufengang ausschalten,
was ihn im erwünschten Ziele stört. In der Abgeschiedenheitslehre
Meister Eckeharts finden wir immer wieder dieselben Worte: das
Leersein von den Dingen, das Sichfreimachen von allem Störenden,
Widersprechenden. Ist die Seele leer von den Dingen, dann wird
Gott / in der Seele geboren. — Was aber von der Erziehung zum
Heiligen gilt, gilt für jeden Weg der Reinigung, für jede Via purga-
tiva. Will man ein Künstler werden oder ein denkerischer Mensch, so
muß man eine innerliche Reinigung durchmachen. Um die Einge-
bung heranzulocken, braucht man nichts anderes zu tun, als sich frei
zu machen, leer zu machen von allem Widersprechenden. Anders
gesagt: man muß sich sammeln, indem man das Störende ausschal-
tet. Sammlung, Versenkung ist zu allem nötig. Wer Mathematik
lernen will, muß sich für Mathematik „interessieren“, das heißt
sich darein versenken und alles andere austreiben, sich von allem
Störenden reinigen, von allem Ablenkenden frei machen.
Versenkung allein ist jener Zustand, in dem man die Eingebung
empfängt. Das ist die kindliche, einfache und doch einzige Regel
aller Lebenskunst. In jedem Menschen schläft ein Genie, es kommt
einzig und allein darauf an, es zu wecken.
Das „Leerwerden“, die Lehre von der Abgeschiedenheit im Sinne Meister
Eckeharts, ist nicht weltfeindlich. Wir müssen immer leer von dem sein, was
widersprechend ist, was dem widerspricht, womit wir erfüllt werden sollen.
Willst du mit Göttlichem erfüllt werden, dann mußt du dich von der Welt
frei machen. Der Künstler muß sich vom Nichtkünstlerischen, der Denker vom
Nichtdenkerischen frei machen. Es gibt einen bestimmten Reinigungsweg für