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durch Gezweiung. E r s t d u r c h d i e G e z w e i u n g h i n -

d u r c h w i r k t s i e a u f d i e E i n z e l n e n , sie wirkt auf sie

als auf Mit-Ausgegliederte, als auf die Glieder der Gemeinschaft

(Gezweiung).

Mit diesem Gedankengange ist der entscheidende Schritt getan.

Das Ideenreich wird zu einem gesellschaftlichen Uber-Dir, zum

G e s a m t g e i s t e d e r G e s e l l s c h a f t oder, wie Hegel sagt,

zum o b j e k t i v e n G e i s t e . Das gesellschaftliche Über-Dir,

der objektive Geist kann nun nicht mehr vom Einzelnen abgelei-

tet werden, indem er etwa als die S u m m e der Gedanken aller

Einzelnen bestimmt würde, oder etwa als die E r g ä n z u n g der

Gedanken aller Einzelnen durcheinander (denn auch im letzteren

Falle wären die zu ergänzenden Gedanken vor dem Ganzen da,

also nur Summanden!); vielmehr ist es begrifflich vor dem Ein-

zelnen. Der Einzelne ist geistig nur durch ihn und in ihm, wird mit

seinem geistigen Inhalte erfüllt — jedoch nicht mechanisch, sondern

kraft eigener Schaffenstat des Einzelnen, so daß das gliedhafte Eigen-

leben des Menschen, seine Vita propria, dabei nicht verneint wird.

Wir finden die Lehre vom objektiven Geiste nicht nur bei Hegel, wo aller-

dings der Name zuerst auftaucht. Schon S c h e l l i n g sprach im selben Sinne

von der Gemeinschaft als der „zweiten Natur“

1

. Noch früher findet sie sich

schon bei Platon und Aristoteles; und in gewissem Sinne fehlt sie selbst bei

Kant nicht. Bei P l a t o n ist es die Idee des rechten Lebens, der Gerechtigkeit,

die sich im staatlichen Gemeinschaftsleben darstellt

2

. Die / über und vor allen

einzelnen Menschen wirksame „Idee der Gerechtigkeit“ ist darum nach Platon

der objektive Inbegriff des Lebens, das ursprünglich Gemeinschaft ist und erst

d u r c h d i e G e m e i n s c h a f t h i n d u r c h den einzelnen Menschen er-

greift. — Ähnlich A r i s t o t e l e s .

B e i H e g e l bestimmt die Ideenwelt in offensichtlichster Weise die Orga-

nisationsform des Gemeinschaftslebens, nämlich den Staat, die Sittlichkeit, wie

sich in anderem Zusammenhange schon ergab

3

. „Es ist der Gang Gottes in der

Geschichte, daß der Staat ist“, sagt Hegel. Die Ideenwelt nimmt also bei Hegel

ähnlich wie bei Platon die Form des „Staates“ an. „Staat“ bedeutet darum im

Grunde bei Platon wie bei ihm nichts anderes als objektive geistige Wirklichkeit

der Gemeinschaft, das heißt aber zuletzt auch: der Sittlichkeit.

Bei K a n t , der hier wie überall eine Übergangsstellung einnimmt, finden

wir die Idee als „objektiven Geist“ immerhin noch, wenn auch nur in den

unsicheren Umrissen sichtbar. Der Begriff des „Bewußtseins überhaupt“ ist es,

in dem bei Kant das Objektive, das Ideenhafte der Vernunft liegt. Das logische

1

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämtliche Werke, Abteilung 1,

Bd 3, Stuttgart 1856, S. 583.

2

Siehe oben S. 30.

3

Siehe oben S. 76.