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einen neuen Ausdruck im subjektiven Geiste
1
. Es entsteht im
Kulturinhalte eine neue objektive Schichte des Geistes, die Kunst.
Das zerlegende Wissen des Gegenstandes, so können wir es auch
ausdrücken (das auf dem Grunde der Eingebung ruht), drängt in der
Kunst abermals auf ein Unmittelbares hin, es findet dies in der
G e s t a l t des Gegenstandes. Wissen des Gegenstandes will Wissen
von Gestalt werden — Wissenschaft will sich in Kunst verwandeln!
„Gestalt“ nun darf hier freilich nicht nur in einem äußerlichen,
z. B. einem bloß zeichnerischen, geometrisch-figürlichen Sinne ge-
faßt werden; dann wäre sie ja wieder als Gegenstand gewußt, nur
Wissen; sondern sie ist als ein Unmittelbares zu fassen. „Gestalt“
ist dasjenige, das in keine Rechnung eingeht, in kein zerlegendes
noch beschreibendes Denken — sondern das von sich selbst ist.
Darum auch ist sie Individuation der I d e e . Sie ist dasjenige Un-
mittelbare, durch das nach der uralten, richtigen Kunstlehre des
Platon, Plotin, Schelling und Hegel das Übersinnliche selber dar-
gestellt ist. Daher ist ein Kunstwerk nur jenes Gebilde, durch das
die ewige Idee hindurchschimmert. Alle Empfindung der / S c h ö n -
h e i t ist darum sowohl unmittelbar, „schauend“, als auch meta-
physisch.
Hat Wissen in der Eingebung ein Unmittelbares, ein „Schauen“
zum Grunde, das auf den Glauben weist; so gelangt es in der Kunst
selber wieder zum Schauen, das abermals wieder ein Metaphysisches
zum eigentlichsten Wesenselemente hat. Darum ist jede Kunst im
tiefsten Grunde der Ausdruck metaphysischen Sehens der Dinge.
Eine unmetaphysische Kunst wäre ein hölzernes Eisen.
Wissenschaft vollendet sich erst in der Kunst, ist ihr vorgeordnet.
Kunst setzt Wissenschaft voraus. Dieses Ergebnis mag auf den ersten
Blick überraschen, da man Kunst zumeist, so auch Hegel, „vor“ die
Wissenschaft zu stellen pflegt oder auch wohl „unter“ sie, nämlich als
dasjenige, in dem der erkennende Geist noch nicht zur vollen Klar-
heit gekommen wäre. Jede solche Auffassung ist aber undurchführ-
bar. Dagegen erweist sich die dargelegte Vorgeordnetheit des Wis-
sens vor der Kunst, kraft welcher sich Wissenschaft in der Kunst
selbst vollendet, zweifach. Zuerst aus dem inneren Getriebe des
Wissens: das zerlegende Wissen drängt, indem es zur Bestimmtheit
1
Vgl. oben S. 101
f.; Der Schöpfungsgang des Geistes, Jena 1928, S. 219 f.
und 270 ff.