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o d e r R a s s e . Die Aktuierbarkeit dieses Vorranges reicht nur so
weit, als die Vermittlungen reichen. Zum Beispiel kann die
schwache Leiblichkeit durch Übung der Muskeln, hervorgerufen
durch den Geist, gestärkt, die Kränklichkeit durch Kuren behoben;
aber der Schwarzäugige kann nicht blauäugig werden und so fort,
weil die geistigen Vermittlungen nicht so weit reichen.
Diese wenigen Bemerkungen können allerdings den Gegenstand nicht genügend
erschöpfen, sind aber hier nur dazu bestimmt, auf die Stellung der Sinnlichkeit
und Leiblichkeit in der Ausgliederungsordnung des Gesamtgeistes sowie auf die
Denkaufgaben, die sie stellt, hinzuweisen
1
.
VII. Sittlichkeit und Recht
A.
Das W e s e n d e s S i t t l i c h e n
Zu dem Geistursprünglichen tritt ein neuer Teilinhalt hinzu, der,
obwohl in gewisser Weise ursprünglich und unableitbar, doch nichts
inhaltlich Neues dem Bestande des gesellschaftlichen Geistes hinzu-
fügt. Es ist das Sittliche (Moralische, Ethische). Was ist das Sittliche?
Wird bei Beantwortung dieser Frage die empiristisch-materiali-
stisch-utilitarische Lehre als ernste Philosophie unangemessen von
Anbeginn ausgeschaltet; so ist für die Gesellschaftsphilosophie auch
noch jene Auffassung der Sittlichkeit unannehmbar, die, wie die
Kantische, vom Subjekt ausgeht. Denn nicht die sittliche Gesinnung
des Subjektes noch deren Apriori noch die Sittengebote (Impe-
rative, Pflichtbegriffe) sind das Erstwesentliche. Diese subjektiven
Seiten der sittlichen Erscheinungen müssen vielmehr vom ursprüng-
lichen Tatbestande des gesellschaftlichen Geistes, des Geistursprüng-
lichen, her erst g e r e c h t f e r t i g t werden. Die Rechtfertigung,
die Nötigung zum Sittlichen liegt nun darin: daß die ursprünglichen
Inhalte des Geistes sowohl vom Subjekte wie von der Gemeinschaft
stets nur u n v o l l k o m m e n verwirklicht werden: darum
nimmt der Geist eine R i c h t u n g a u f d i e V o l l k o m m e n -
h e i t a n u n d d i e s e i s t d a s S i t t l i c h e .
Die Gesellschaftsphilosophie bedarf keiner Begründung der Un-
vollkommenheit, das heißt keines „Abfalls“. Sie findet das Unvoll-
1
Vgl. Weiteres in meiner Gesellschaftslehre, 3. Aufl., Leipzig 1930, S. 262
und 358 ff.