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heute allgemein unter dem Gesichtspunkte einer individualistischen

Begründung der Gesellschaft betrachtet. Darum pflegt sie im An-

schluß an Kant allzu eng und subjektivistisch, nämlich als P f l i c h -

t e n l e h r e , gefaßt zu werden, welcher ein oberstes Pflichtgebot als

„kategorischer Imperativ“ vorsteht. In der Sittenlehre steht aber die

Pflichtenlehre nicht an erster Stelle. Die vollständige Sittenlehre hat

vielmehr zu umfassen:

1.

Eine G ü t e r l e h r e , mit der Hauptfrage: Welche sind die

Vollkommenheitsformen des Geistes oder die sittlichen Güter, und

welche Rangordnung haben sie als Ziele des Handelns?

2.

Die T u g e n d l e h r e , mit der Hauptfrage: Welche Tüchtig-

keiten oder Tugenden hat der Einzelne in seinen seelischen Kräften

(welche Glieder des objektiven Geistes sind) auszubilden, um die

sittlichen Güter zu erlangen?

3.

Die P f l i c h t e n l e h r e , mit der Hauptfrage: Was ist auf

Grund der Gütertafel vom Einzelnen zu tun, um mittels der Tugend

das Sittliche zu erreichen, was ist also Pflicht? Welche Gebote und

Vorschriften (Imperative) g e l t e n für den Einzelnen auf Grund

dessen, was sittliches Gut ist? Es wird sich zeigen, daß die Pflich-

tenlehre inhaltlich mit der Tugendlehre zusammenfällt

1

.

Die systematischen Fragen der Sittenlehre sind nur zu lösen, wenn

die Sittlichkeit als ein Teilinhalt der Gesellschaft, nicht aber subjek-

tivistisch behandelt wird. Nur eine solche Behandlung der Sitt-

lichkeit, die von ihr als einer überindividuellen gesellschaftlichen

Teilordnung ausgeht und von diesem überindividuellen Tatbestande

zum Subjekt herabsteigt, vermag sowohl die objektive wie die sub-

jektive, die inhaltliche wie die formale Seite des Sittlichen zu erfas-

sen.

Die Auffassung der Sittlichkeit von ihrer gesellschaftlichen Ob-

jektivität her, das heißt, um es zu wiederholen, von der in den

objektiven Inhalten a l l e r gesellschaftlichen Teilinhalte gegebenen

Wert- und Vollkommenheitsordnung her, wird nicht nur durch

gesellschaftswissen- / schaftliche, sondern ebenso durch philosophi-

sche und rein systematische Erwägungen begründet. Vor allem ist

die berühmte Kantische Formel: „Es ist überall nichts in der Welt, ja

überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Ein-

schränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter

1

Siehe unten, Drittes Hauptstück, Sittenlehre, S. 180 ff.