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daß das Vorgehende die Grundlage ist, auf der sich das Spätere auf-
baut; das Spätere dagegen zwar ein Arteigenes ist und bleibt, aber
sich nur auf der Grundlage des Früheren auszugliedern vermag. Wir
sehen umgekehrt nirgends, daß das begrifflich Frühere sein begriff-
lich Nachgeordnetes auch genetisch (realiter) erzeugte. „Wissen
kommt von Wissen“ her, „Kunst von Kunst“ usw. — das lernten
wir oben
1
als genetisches Grundgesetz kennen. Es muß sich daher
jedes Teilganze selber ausgliedern, es kann sein ausgliederndes
Werden (die reale Genesis) nicht von dem begrifflich Früheren er-
langen, es kann nur von sich selber kommen. — Stets hat ein gei-
stiges Teilganzes einem andern gegenüber nur dadurch den Vor-
rang, daß es die begriffliche, die wesensmäßige (nicht genetische)
Voraussetzung für das Spätere abgibt; es „begründet“ in diesem
Sinne begrifflich (das ist wesensgemäß) das Nachgeordnete, wie um-
gekehrt das Nachgeordnete sein Vorgeordnetes „erfüllt“ und „be-
währt“. Wir können darum sagen, daß dem begründenden Vorge-
ordneten ein erfüllendes und bewährendes oder rechtfertigendes
Nachgeordnetes entspreche. Hierin liegt aber nicht beschlossen, daß
ein Vorgeordnetes sein begrifflich Nachgeordnetes realiter, gene-
tisch, „erzeuge“ oder „setze“.
Die Begriffsbestimmung des Vorranges in der S c h o l a s t i k wurde, genau
betrachtet, auf den begründenden Vorrang beschränkt. Q u o d e s t p e r s e ,
s e m p e r e s t p r i u s e o , q u o d e s t p e r a l i u d , was durch sich selbst ist,
ist früher, als was durch ein anderes ist
2
. Es ist richtig, daß das Spätere (be-
grifflich) durch das Frühere ist, aber wenn man darum das Frühere als
s c h l e c h t h i n für sich seiend (per se) bestimmte, / übersähe man, daß das
Frühere in dem Sinne nicht für sich „s e i n“ könne, sich ohne das logisch
Spätere nicht zu „erfüllen“ und (was das „Spätere“ als Handeln anlangt) nicht
zu „entfalten“ vermöge (mit Ausnahme der Gottheit).
2. Der Vorrang zwischen geistigen und handelnden Teilinhalten
Das Wesen der Teilinhalte des Handelns erkannten wir darin,
daß sich Geist im Handeln entfalten, auswirken, darstellen, voll-
verwirklichen müsse. Geistiges will sich in das Gebilde des Han-
1
Siehe oben S. 165
.
2
Vgl. Ludwig Schütz: Thomas-Lexikon, Sammlung, Übersetzung und Er-
klärung der in sämtlichen Werken des hl. Thomas von Aquin vorkommenden
Kunstausdrücke und wissenschaftlichen Aussprüche, 2
.
Aufl., Paderborn 1895,
S. 582.