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mit seinen wechselnden Geistesinhalten zuerst, und an sie erst schließen sich die
verschiedenen Wege der N ü t z l i c h k e i t für ihn, die entweder unmittelbar
eigennützige oder mittelbar eigennützige (und dann gesellschaftliche) sind. Denn
die Gesellschaft ist ja dem Empirismus nur der Umweg des Einzelnen zu seinem
eigenen Nutzen. Dadurch entsteht das falsche Bild, als ob eine philosophische
Behandlung der Gesellschaft möglich wäre, ohne daß eine objektive Sittenlehre
ihr vorstünde.
Das Verlangen nach „Wertfreiheit“ in der heutigen Volkswirtschaftslehre
1
,
Rechtslehre und Geschichtswissenschaft (Geschichte als Naturwissenschaft usw.
2
)
entspricht ebenfalls der empiristischen Meinung, eine Gesellschaftsphilosophie auf-
bauen zu können, in der die Sittenlehre nicht bestimmend wäre.
Ist nun das grundlegende Lehrstück jeder idealistischen Gesell-
schaftsphilosophie die Sittenlehre, dann ergibt sich die Folgerung,
daß auch die gesellschaftlichen Einzelwissenschaften die Maßstäbe
der Sittenlehre, also der „Wertung“, an ihre Welt der Erfahrung
anzulegen haben. Die Vollkommenheits- oder reine Wesenslehre
steht auch der Tatsachenforschung der gesellschaftlichen Einzelwis-
senschaften vor, wie sich zeigte.
Die Sittenlehre als Vollkommenheitslehre gefaßt, kann niemals
bloß f o r m a l sein. Schon die Rangbestimmung der Kulturinhalte
der Gesellschaft bleibt nicht mehr im Formalen stecken, der objek-
tive Geist bietet niemals ein bloßes Strukturbild; er ist mit In-
h a l t erfüllt. Eine bloß formale Gefügelehre der Kultur wäre nur
eine Verfahrenlehre. Wir brauchen eine Inhaltslehre, e i n e L e h r e
v o m r e i n e n S a c h g e h a l t e d e r K u l t u r , und eben das
ist die Sittenlehre. Sobald wir den objektiven Geist in seinem reinen
Sachgehalt denken, wird seine Betrachtung von selbst zur inhalts-
bestimmenden
Vollkommenheits-
oder
Sittenlehre.
1
Siehe unten S. 280.
2
Vgl. meinen Aufsatz über die Einheit von Theorie und Geschichte in der
Gedächtnisschrift für Georg von Below (Aus Politik und Geschichte, Berlin 1928),
S. 322 ff; jetzt, zum Teil erweitert, unter dem Titel: Zur Grundlegung einer
ganzheitlichen Logik, Uber die Einheit von Theorie und Geschichte, in: Kämp-
fende Wissenschaft, Jena 1934, S. 143 ff.; vgl. auch: Ganzheitliche Logik, Eine
Grundlegung, Salzburg, Klosterneuburg, 1958.