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E r s t e r A b s c h n i t t

Allgemeine Sittenlehre

I. Lehrbegriff der Vollkommenheit

A. S e i n u n d S o l l e n . D a s B ö s e

In welchem Sinne gibt es ein Vollkommenes und ein Unvollkom-

menes in einer geschichtlichen Gesellschaft? Das ist die erste Frage,

die sich uns aufdrängt.

Die reine Ausgliederung alles geistigen Seins ist in sich vollkom-

men. Ein uralter Satz, der schon die Platonische Ideenlehre be-

herrscht, sagt: Das Sein ist das Gute

1

, das reine Sein ist in sich

selbst vollkommen. Darum nennt Platon die höchste Idee die Idee

des Guten. Platon sagt allerdings auch

2

, daß sie „jenseits des Seins“

sei. Sie ist ein Übersein, aber sie verleiht den Ideen (dem Voll-

kommenen) das Sein. Im reinen Sein gibt es keine Fehlausgliede-

rung.

Nicht so das geschöpfliche, beschränkte Sein. Hier gibt es Fehl-

ausgliederung — ob zuletzt durch „Abfall“, „Abschwächung“ oder

Entsprechendes, geht die Gesellschaftsphilosophie nicht an. Für diese

genügt es, daß alles geschöpfliche Sein mit durch das Schaffen des

Geschöpfes — durch Schaffen aus Geschaffenwerden — hervortrete,

also durch Gebrauch des Eigenlebens, der beschränkten Schöpfer-

kraft des Geschöpfes. (Gliedhaftes Eigenleben, gliedhafte Vita pro-

pria.)

Daher gibt es im Verlaufe der Geschichte und im Aufbaue der

Kulturen nirgends lautere Vollkommenheit, vielmehr überall viel

Unvollkommenheit. In der geschichtlichen Gesellschaft besteht eben-

sowenig je vollkommen Ausgegliedertes, wie der physiologische Or-

1

Platon: Staat, Siebentes Buch, 518c: „...das Seiende anzuschauen und den

lichtesten Punkt des Seienden, von dem wir sagen, daß es das Gute sei.“

2

Platon: Staat, Sechstes Buch, 509 b.