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Dinge selbst begründet sei, daß er ein o n t o l o g i s c h e s U r -
t e i l und kein subjektives Werturteil in sich schließe. — Ist dieser
Stand der Einsicht erreicht, dann folgt weiter:
A l l e s S e i n i s t s e i n e m W e s e n n a c h g e s o l l t e s
S e i n .
Wenn alles Sein in seinem eigenen Sachgehalte den Vollkommenheitsmaßstab
in sich trägt; wenn ferner alles empirische Sein Fehlausgliederungen auf- / weist:
dann ist alles empirisch Unvollkommene nur dadurch unvollkommen, daß es sein
inneres Sollen, daß es die in s e i n e m W e s e n g e f o r d e r t e Vollkommen-
heit nicht erreicht — also gesolltes Sein ist.
Die Ganzheit stellt sich in den Gliedern dar. Das Sein der Glieder ist daher
Verwirklichung der Ganzheit, aber empirisch unvollkommene Verwirklichung,
und in diesem Sinne: gesolltes Sein. Da alles geistige und gesellschaftliche Sein
ganzheitliches Sein ist, so ist alles geistige, gesellschaftliche und geschichtliche Sein
in diesem Sinne gesolltes Sein; anders gesagt: ein das Sollen, die Vollkommen-
heit, nicht gänzlich erreichendes Sein.
Das Geschaffenwerden ist die Gabe, die der subjektive Geist empfängt, das
Schaffen seine Tat
1
. Im Schaffen erreicht er das Geschaffenwerden nicht abso-
lut; im zergliedernden Denken erreicht der Denker, im gestaltenden Tun der
Künstler die Eingebung nicht vollkommen. Alles Sein im Denken, im künstle-
rischen Schaffen, im sonstigen geistigen Tun ist gesolltes Sein. — Endlich gilt
ebenso:
Die Idee stellt sich in der Wirklichkeit der Gesellschaft und Geschichte dar; sie
erreicht (durch Gezweiung höherer Ordnung und durch die subjektive Ein-
gebung hindurchgehend) sich selbst nicht vollständig; das Sein des objektiven
Geistes ist also gesolltes Sein.
Alles Sein ist ein aufgegebenes Sein und in diesem Sinne gesolltes; da die
Aufgabe niemals vollkommen erfüllt wird, ist es auch in diesem Sinne des zu-
rückgebliebenen Seins ein Gesolltes, nämlich eines, das vollkommen sein sollte,
es aber nicht werden konnte. Darum gilt:
Ob F e h l a u s g l i e d e r u n g e i n t r e t e o d e r R e i n a u s g l i e d e -
r u n g e r f o l g e , i m m e r i s t d a s S e i n g e s o l l t , u n d e i n S e i n ,
d a s n i c h t g e s o l l t w ä r e , i s t b e g r i f f s g e m ä ß u n m ö g l i c h .
Darum sagt Aristoteles mit Recht: Das Vollkommene ist vor dem Unvoll-
kommenen
2
.
Hieran zeigt sich wieder, wie die heutige neukantische Zerrei-
ßung von „Sein und Sollen“ und die daran anknüpfende Bestre-
bung nach einer „wertfreien“ Geisteswissenschaft etwas durchaus
Verfehltes und nichts anderes als unzulässige Übertragung natur-
wissenschaftlicher Verfahren in die Sitten- und Gesellschaftslehre.
Es gibt kein absolut wertfreies Sein, am wenigsten auf geistigem Ge-
biete.
1
Siehe oben S. 102 f.
2
Aristoteles: Uber den Himmel, Erstes Buch, 2.