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dern auch Übereinstimmungen in sich schließen. Daß die Religion

irgendeines Naturvolkes mit Menschenopfern tiefer stehe als ein

erhabener Monotheismus, wird jede Religionsgeschichte anerken-

nen müssen. Sie kann ohne gewisse Vollkommenheitsbestimmungen,

die sie von dem sinnvollen Wesen des Gegenstandes selbst her-

nimmt, gar nicht als Wissenschaft auftreten. Freilich wird zwischen

Mohammedanern, Buddhisten und Christen ein Rangstreit beste-

hen. Aber auch z. B. der Buddhist wird zugestehen, daß das Chri-

stentum eine vollkommenere Religion sei als eine „Naturreligion“.

So können die streitenden Parteien nur reden, weil das Sein einen

sinnvollen Sachgehalt hat und weil das Erkennen gerade darinnen

besteht, diesen Sachgehalt durch verstehende Analysis der Wirklich-

keit zu finden. Das o b j e k t i v e S a c h e r f o r d e r n i s ist es,

das den Vollkommenheitsgrad der Dinge anzeigt. Ob die Erkennen-

den ihn überall finden und sich überall über das Gefundene ver-

ständigen, ist eine andere Frage. Die Geistesgeschichte ist voller Irr-

tümer, und doch gibt es eine Wahrheit. Die Sittengeschichte ist vol-

ler Verbrechen, und doch gibt es eine Sittlichkeit. Hier wie dort ist

das Sollen subjektiver Willkür entzogen, es hat übersubjektive Vor-

aussetzungen.

Damit ist die rationale Wurzel des Unvollkommenheitsbewußt-

seins bloßgelegt.

Aber es gibt noch eine tiefere Wurzel für das Bewußtsein des

Sollens oder das G e w i s s e n , dies Wort im weiteren Sinne ver-

standen. Nicht nur das begrifflich erkannte Vollkommene steht als

Gesolltes vor uns. Der Drang, das Streben nach dem Vollkommenen

hat seinen letzten Ursprung in der U r n a t u r d e s M e n s c h e n ,

welche auf das Vollkommene hingeordnet ist; anders gesagt, in der

B e s t i m mu ng des M e n s c h e n . Platon sagte, der Mensch

habe vor seinem Erdendasein die Ideen geschaut. Er wäre demnach

mit dem Vollkommenen heimlich durchdrungen. Ulrici sagte, wie

dem Leben der Raupe die Bestimmung eingepflanzt sei, ein Schmet-

terling zu werden, so dem Menschen eine ethische Bestimmung

1

.

Allerdings ist dieser Vergleich der Natur entnommen, der Mensch

aber nicht bloß Naturwesen. Dieser Vergleich weist uns jedoch auf

1

Hermann Ulrici: Grundzüge der praktischen Philosophie, Naturrecht, Ethik

und Ästhetik, Bd 1 (Allgemeine grundlegende Einleitung, Das Naturrecht), Leip-

zig 1873, S. 110.