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Handeln erfüllt den Menschen oder die gesellschaftlichen Gebilde
schrittweise mit dem Gute, führt sie neuer Vollkommenheit zu.
Eben das ist aber das Schöpferische. Es gibt nichts, was mehr
schöpferisch wäre als das, was ein Unvollkommenes zum Vollkom-
menen macht. Weil das Vollkommenheitsgut das Unvollkommene
mit Fülle versieht und erneuert, darf man es auch das s e i n s -
b e g r ü n d e n d e o d e r s c h ö p f e r i s c h e G u t n e n n e n .
Die Einsicht, daß Sittlichkeit schöpferisch sei, darf man als eine
vor andern wichtige und erhabene Lehre aller idealistischen Ge-
sellschaftsphilosophie bezeichnen. Das rein Ausgegliederte schöpft
aus dem vollen und ist selbst der Überfluß, da es sich voll genügt;
aber wer den Mangel / spürt, muß eine Veränderung erfahren, einen
Vorgang, der zum Vollkommenen hinführt, einen schöpferischen
Vorgang.
Dieser Vorgang liegt nicht im Geistursprünglichen; er ist kein
religiöser, denkerischer und künstlerischer Vorgang, sondern ein
sittlicher, ein wiederherstellender. Von diesem Punkte aus müssen
wir alle Verfallszeiten der Geschichte beurteilen und vor anderen
unsere eigene Zeit. Je tiefer die Menschheit einer Verfallszeit gesun-
ken ist, um so allgemeiner muß der schöpferische sittliche Vorgang
der Wiederherstellung ansetzen, um so mehr wird er eine Lebens-
frage für die Kultur wie für den einzelnen Menschen. Wenn wir
heute einen gotischen Dom bewundern, so bewundern wir den
Ausdruck einer Einstellung und einer Tiefe, die der heutige Mensch
kaum noch zu fassen vermag. Aber diese Kultur war nur möglich
durch eine bestimmte sittliche Richtung, wie sie der Neuzeit fremd
ist: eine Richtung auf das Heldische und Heilige; das Heilige aber
ist mystisch!
Die großen Zeitalter unterscheiden sich von den anderen eben
durch diese Richtung ihrer Sittlichkeit: sie streben zuletzt dem
M y s t i s c h e n zu. Die kleinen, unfruchtbaren Zeitalter sind
materialistisch.
Die ganzheitliche Gliederung des Seins führt uns zur Einsicht,
daß die Vollkommenheitsgüter oder seinsbegründenden Güter sich
untereinander in jener Reihenfolge abstufen, die sie in der Stufen-
leiter des Seins einnehmen. Wir gewinnen aus diesem Gesichts-
punkte vorläufig folgende V o r r a n g s ä t z e , die jene Abstufung
bezeichnen.