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die hohe Würde, das gottverwandte Wesen der menschlichen Seele

hin, welche uns die Metaphysik und Mystik, auch jede tiefere

Pneumatologie, lehren. Meister Eckehart sagt: „Wirret Euch nicht

mit kleinen Dingen, denn ihr seid zu Kleinem nicht berufen

1

.“ Der

göttliche Funke am Grunde unserer Seele drängt uns zum Vollkom-

menen.

II. Die weiteren Grundbegriffe der Sittenlehre

Überall im menschlichen Geiste, wo es Vollkommenes und Un-

vollkommenes beisammen gibt, gibt es auch kraft des Unvollkom-

menheitsbewußtseins oder Gewissens einen Vorgang, der sich auf

die Überwindung des Unvollkommenen und die Wiederherstel-

lung des Vollkommenen richtet. Und dieser (mindestens latent vor-

handene) Vorgang ist die Sittlichkeit. Die Sittlichkeit in Gesell-

schaft und Geschichte, die o b j e k t i v e S i t t l i c h k e i t , / so-

wie beim einzelnen Menschen die s u b j e k t i v e S i t t l i c h k e i t

ist die Richtung auf das Vollkommene, ist wiederherstellende Sitt-

lichkeit.

Überall dort, wo lautere Vollkommenheit ist, bedarf es keiner

wiederherstellenden Sittlichkeit. Denn was in sich selbst vollkom-

men ist, braucht sich um Sittengebote nicht mehr zu kümmern. Wie

ja auch diejenigen, die immer logisch richtig dächten, eine Lehre

vom richtigen und unrichtigen Denken nicht nötig hätten. In die-

sem Sinne ist es zu verstehen, wenn Meister Eckehart sagt: „Der da

spräche, daß Gott gut wäre, der redete so unrecht, wie wenn er die

Sonne bleich oder schwarz hieße

2

.“ Das ist in diesem Sinne gesagt,

daß Gott der Inbegriff des Vollkommenen, aber nicht der Wieder-

vervollkommnung sei.

In gleichem Sinne ergab sich schon früher, daß dasjenige, was wir

Sittlichkeit nennen, dem Geistursprünglichen nicht angehöre. Denn

das Geistursprüngliche ist seinem Begriffe nach in sich vollkom-

men. Erst wenn Fehlausgliederung entsteht, muß eine Wiederher-

1

Meister Eckhart, herausgegeben von Franz Pfeiffer, Leipzig 1857, S. 602,

Zeile 27 f.

2

Vgl. Otto Karrer und Herma Piesch: Meister Eckeharts Rechtfertigungs-

schrift vom Jahre 1326, Erfurt 1927; S. 130 und 169; Meister Eckhart, heraus-

gegeben von Franz Pfeiffer, Leipzig 1857, S. 269, Zeile 19 f. (Satz 2, 2. Ab-

teilung der verworfenen Sätze).