Table of Contents Table of Contents
Previous Page  5076 / 9133 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 5076 / 9133 Next Page
Page Background

200

[128/129/130]

D. Die T u g e n d

Die Richtung auf das Vollkommene, welche die einzelnen Men-

schen, aber auch die gesellschaftlichen Gebilde, wie z. B. Schule,

Staat, Kirche, annehmen, bedarf einer bestimmten T a u g l i c h -

k e i t , T ü c h t i g k e i t o d e r T u g e n d . Wie denn auch das

deutsche Wort „Tugend“ sich von taugen ableitet; und ebenso das

griechische

αρετή,

das ist Tüchtigkeit, ähnlich das lateinische virtus,

Kraft, Fähigkeit, also Tüchtigkeit, Tauglichkeit.

Ist die Tugend nichts anderes als eine Tauglichkeit, Tüchtigkeit,

welche der Mensch und die gesellschaftlichen Gebilde bei dem Vor-

gange der Wiedervervollkommnung anwenden, so ergibt sich, daß

sie selbst wieder zwei Seiten in sich habe:

1.

sie ist eine bloße F ä h i g k e i t , Anlage, Möglichkeit, den

Geist in Gebrauch zu setzen, wenn er die Richtung auf das Voll-

kommene annimmt; und

2.

die durch Gebrauch ausgebildete, entwickelte Kraft, die keine

bloße Möglichkeit mehr, sondern schon eine Wirklichkeit, ein

Aktuiertes ist: eine H a l t u n g , lebendige, wirksame Geistes-

haltung (habitus,

έξις

).

Aus dem Begriffe der Tugend als Tüchtigkeit des Geistes, die

Richtung auf das Vollkommene zu nehmen, folgt, daß die T a f e l

d e r T u g e n d e n der Tafel der Güter entspreche. Die Tüchtig-

keiten, die entwickelt werden, um das Vollkommenheitsgut zu er-

langen, erhalten nur von dem Gute ihr Wesen. Die E i n t e i l u n g

d e r T u g e n d e n geht von der Einteilung der Güter aus und

geht mit der Einteilung der Güter Hand in Hand

1

. Hieraus folgt

auch, daß die Tugenden nicht einem bestimmten Gebiete angehören,

sondern nach Maßgabe der Güter, allen Gebieten des gesellschaft-

lichen Geistes und des persönlichen Lebens. Überall, wo ursprüng-

liche Güter sind, sind auch Tugenden.

Es ist wichtig, die Entsprechung der Tugenden zu den Gütern

festzuhalten, um dem Irrtum zu entgehen, als ob die Einteilung

der Tugenden eine psychologische wäre, wie man unter anderem

in unrichtiger Erklärung Platons anzunehmen pflegt. Indessen, so

1

Vgl. unten S. 220 ff., die Tafel der Güter und Tugenden.